AAD 2023: Künstliche Intelligenz in der Glaukomdiagnostik

Prof. Hagen Thieme auf der Auftaktpressekonferenz der AAD2023.Foto©Biermann Verlag/Schulz

Prof. Hagen Thieme, Universitätsklinikum Magdeburg, erörterte auf der Augenärztlichen Akademie Deutschland (AAD) die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Glaukomdiagnostik und ging hier insbesondere auf die Vorteile, die sich aus dem KI-Einsatz in der Diagnostik für den Patienten ergeben, ein.

Die KI wird einerseits als Wunderwerkzeug gepriesen, um die Herausforderungen der Zukunft in den Griff zu bekommen, andererseits macht sie manchen Menschen auch Angst: Da passiert etwas mit zum Teil sehr persönlichen Daten, das sich der Kontrolle durch die Betroffenen entzieht. Es gibt bereits KI-Anwendungen in der Medizin und gerade auch in der Augenheilkunde, die als wichtige Unterstützung der Diagnostik gesehen werden können. Die (Augen)ärztliche Bewertung und Entscheidung ersetzen sie nicht, doch sie bieten wichtige Hilfestellungen.

Was ist künstliche Intelligenz überhaupt?

„Künstliche Intelligenz“ ist ein Teilbereich der Informatik, bei dem es darum geht, Computer und Computerprogramme so zu gestalten, dass sie eigenständig Probleme bearbeiten – so ähnlich wie Menschen dies tun würden. Ein Teilgebiet der KI ist das „Machine Learning“: Rechner können Algorithmen entwickeln und ständig verbessern, um große Datenmengen auszuwerten. Ein anderes Teilgebiet der KI, das „Deep Learning“, geht noch weiter: Es ahmt biologische Strukturen des Nervensystems nach (neuronale Netze). In den vergangenen Jahren wurden hier rasante Fortschritte gemacht und gerade in der Bilderkennung gibt es Anwendungen, die menschlichen Fähigkeiten, Bilder zu analysieren, nahe kommen, ja sie teilweise sogar übertreffen. Alleine durch die Analyse von Fotos des Augenhintergrundes lassen sich dank KI Aussagen über Alter, Rauchgewohnheiten und Blutdruck eines Menschen machen.

Warum ist gerade die Augenheilkunde ideal für die Digitalisierung?

KI-Anwendungen sind dort hilfreich, wo klar definierte Fragestellungen auf große Datenmengen treffen, die die notwendigen Informationen enthalten.

Die Augenheilkunde ist eine Disziplin, die schon lange die Möglichkeiten nutzt, ins Auge hineinzuschauen: Hermann von Helmholtz erfand 1850 den Augenspiegel, noch heute ein unersetzliches diagnostisches Werkzeug des Augenarztes. Seither wurden immer genauere und feinere Methoden entwickelt, um die Strukturen des Auges abzubilden.

Mit dem Blick ins Auge geben sich Augenärzte längst nicht mehr zufrieden. Wo in früheren Jahrzehnten auffällige Befunde noch in von Hand gezeichneten Skizzen festgehalten wurden, entstehen heute digitale Netzhautfotos. Hinzu kommen weitere Verfahren: Die Optische Kohärenztomographie (OCT) und andere Laserscan-Verfahren beispielsweise bieten, gepaart mit moderner Computertechnik, immer neue Möglichkeiten, feinste Strukturen etwa von Netzhaut und Sehnerv zu untersuchen und abzubilden. Bei einer berührungslosen Untersuchung, die nur wenige Sekunden oder Minuten dauert entstehen so Aufnahmen, die sogar einzelne Zellschichten darstellen. Dabei sollte man sich dessen bewusst sein, dass es sich nicht um analoge Bildgebung handelt. Die Bilder, die hier entstehen, sind vom Computer sichtbar gemachte digitale Daten.

Auf diese Weise produzieren Augenärzte bei ihren Untersuchungen mit modernen Verfahren große Datenmengen, die genau das Material bieten, das mit KI-Anwendungen ausgewertet werden kann.

Warum könnte KI in der Glaukomdiagnostik eine Rolle spielen?

In der Glaukomdiagnostik sind eine ganze Reihe von Verfahren seit Jahrzehnten etabliert, dazu gehört die Messung des Augeninnendrucks und die Analyse des Gesichtsfelds. Hinzu kommen die OCT und ihre Weiterentwicklung, die OCT-Angiographie (OCT-A), mit der rund um den Sehnerv mehrere für die Glaukomerkrankung wichtige Bereiche untersucht werden können:

– Die Darstellung der peripapillären Gefäßdichte ermöglicht eine Einschätzung, wie gut der Sehnerv durchblutet wird.

– Auch der Zustand der parapapillären chorioidalen Mikrogefäße ist von Interesse.

– Rund um den Sehnervenkopf kann mit Hilfe der OCT die Dicke der retinalen Nervenfaserschicht bestimmt werden.

– Weitere wichtige Parameter sind die Gefäßdichte rund um die Makula und der Komplex der Ganglienzellen (Ganglion Cell Complex, GCC), der aus der retinalen Nervenfaserschicht (Retinal Nerve Fiber Layer, RNFL), der Ganglienzellschicht und der inneren plexiformen Schicht besteht.

Engmaschige Augeninnendruckmessungen, Gesichtsfeldanalysen und OCT-Befunde ermöglichen eine detaillierte Diagnostik, mit der der Verlauf dieser chronischen Krankheit und der Erfolg der Behandlung über Jahre hinweg genau dokumentiert werden müssen. Dabei entstehen enorme Mengen an Daten. Sie auszuwerten wird immer schwieriger und zeitaufwändiger.

Hier kann eine automatisierte Auswertung der Daten entscheidende Hilfe leisten – und weltweit suchen viele Arbeitsgruppen nach Wegen, die KI für die Glaukomdiagnostik nutzbar zu machen.

Wie lernen Computer?

Welche Schritte sind nun notwendig, damit Computer lernen, Befunde zu analysieren? Wenn wir einen Barcode oder einen QR-Code sehen, erkennen wir nur ungeordnete Pixel, die wir nicht deuten können. Wir wissen aber: Computer – beispielsweise unsere Smartphones – können die in den Pixeln verborgenen Informationen lesen und für uns nutzbar machen, indem sie beispielsweise einen Link zu einer Internetseite öffnen.

Um KI in der Augenheilkunde einzusetzen, müssen die Rechner nun lernen, beispielsweise OCT-Bilder zu interpretieren. Dafür analysieren zunächst Menschen die Rohdaten und überführen sie in Karten, die einfache Muster enthalten. Das OCT-Bild wird also in einen Barcode „übersetzt“, den der Computer lesen kann. Dies geschieht mehrere hundert Mal. So entsteht ein Trainings-Datensatz. Diesem ersten Schritt des „supervised machine learning“ folgt der nächste: Ein Computer-Algorithmus nutzt den Trainings-Datensatz, um auf dieser Grundlage selbst Bilddaten zu beurteilen. Forschungsgruppen, die sich eine solche KI-Lösung zu Nutze machen, können dann sehr viel mehr Fälle in ihre Analysen einbeziehen. Heute werden bereits Forschungsarbeiten veröffentlicht, in denen bis zu 15.000 Gesichtsfeldanalysen oder 20.000 OCT-Befunde berücksichtigt werden.

Von welchen Anwendungen können Patienten profitieren?

Einige Beispiele von Veröffentlichungen aus den vergangenen Jahren zeigen erste erfolgreiche Anwendungen: Schon heute kann KI Gesichtsfelder auswerten – Defekte erkenne sie sogar zuverlässiger als menschliche Experten. Damit können entsprechende Anwendungen die Glaukomdiagnose unterstützen. [1] Es besteht sogar die Möglichkeit von Vorhersagen, wie sich das Gesichtsfeld entwickeln wird: Eine Arbeitsgruppe ließ ein rekurrentes neuronales Netzwerk jeweils fünf Gesichtsfeldbefunde von Patienten auswerten und dann vorhersagen, wie eine sechste Untersuchung ausfallen würde. Das Ergebnis war herkömmlichen Methoden überlegen. [2] Eine andere Anwendung ist die Beurteilung der Dicke der retinalen Nervenfaserschicht anhand von Fotografien des Augenhintergrunds. Trainiert wurde diese Anwendung anhand von Fundusaufnahmen und von RNFL-Messungen mit der OCT. Das Programm kann anhand der Fotos gut unterscheiden, ob mit einem schnellen oder einem moderaten Verlust von Nervenfasern zu rechnen ist. Damit kann es Augenärzten bei der langfristigen Nachverfolgung der Glaukomerkrankung helfen und bietet eine Unterstützung für Therapieentscheidungen auch dort, wo eine OCT-Untersuchung nicht möglich ist. [3]