Adaptive Toleranz balanciert Autoimmunreaktion aus

Prof. Hassan Jumaa leitet das Institut für Immunologie am Universitätsklinikum Ulm. (Foto: Elvira Eberhardt/Universität Ulm)

Ein neues immunologisches Modell aus Ulm könnte einen Paradigmenwechsel bei der Behandlung von Autoimmunerkrankungen auslösen. Danach sind autoreaktive Antikörper keineswegs schädlich und so schnell wie möglich vom Organismus zu eliminieren. 

Immunologen der Ulmer Universitätsmedizin haben ein neuartiges Modell entwickelt, das “die Behandlung von Autoimmunerkrankungen oder die Impfstoff-Entwicklung revolutionieren könnte”, wie es in einer Pressemitteilung der Universität heißt. Gemäß einer von den Forschenden endeckten „adaptiven Toleranz“ sind autoreaktive Antikörper keineswegs Krankheitstreiber, die der gesunde Organismus frühzeitig beseitigt. Vielmehr lösen sie die Bildung einer Antikörper-Klasse aus, die körpereigene Strukturen schützt.

Als Krankheitstreiber bei Autoimmunerkrankungen galten bislang autoreaktive Antikörper, die normalerweise bei der frühen B-Zellentwicklung identifiziert und entfernt werden. B-Zellen sind ein entscheidender Bestandteil des adaptiven Immunsystems und können die Bildung von erregerspezifischen Antikörpern auslösen.
Nun haben Forschende um Prof. Hassan Jumaa, Leiter des Ulmer Instituts für Immunologie, die Rolle verschiedener autoreaktiver Antikörper untersucht und letztlich neu definiert.

Im Zentrum des Forschungsvorhabens standen Immunisierungsexperimente im Mausmodell. Als Autoantigen erhielten die gesunden Tiere menschliches Insulin in Form von Eiweißkomplexen. „Die Mäuse wurden engmaschig mit Methoden aus der Diabetologie auf Abwehrreaktionen untersucht. Dabei sind wir auf autoreaktive und somit schädliche Antikörper gestoßen, die nach bisherigen Annahmen in den gesunden Mäusen längst eliminiert sein sollten“, erklärt Jumaa.

B-Zell-Diversität schützt vor autoreaktiven Antikörpern

Eine zuvor verbreitete These zu autoreaktiven Antikörpern war also bereits widerlegt. Darüber hinaus stellten die Immunologen fest, dass eine erneute Gabe der Insulin-Eiweißkomplexe den Insulin-spezifischen Antikörpertiter bei den Mäusen hochschnellen ließ. Diese
Antikörper vom Typ Immunglobulin-M (igM) konnten die zuvor nachgewiesene Autoimmunreaktion ausbremsen und körperliche Schäden bei den Mäusen abwenden. Die Ulmer Forschenden nennen diesen bislang unbekannten Mechanismus „adaptive Toleranz“.

„Entgegen früherer Annahmen zeigen unsere Untersuchungen, dass eine gesunde Abwehrreaktion die Bildung schützender IgM-Antikörper auslöst. Dadurch wird die Immunantwort moduliert und der Körper vor autoreaktiven Antikörpern geschützt. Demnach scheint ein diverses B-Zellrepertoire schädliche Autoimmunreaktionen durch adaptive IgM-Antikörper abfedern zu können“, resümiert der Erstautor Timm Amendt die Forschungsergebnisse. Die adaptive Toleranz beruht also auf einem Zusammenspiel verschiedener Autoantigen-Komplexe. Gerät dieser Balanceakt durcheinander, können Autoimmunerkrankungen entstehen. Dass sich diese Forschungsergebnisse vom Mausmodell auf den Menschen übertragen lassen, weisen die Immunologen in einer weiterführenden Studie nach, die kürzlich auf einem Preprint-Server erschienen ist.

Insgesamt ermöglicht der Paradigmenwechsel vom statischen zum dynamischen immunologischen Modell („adaptive Toleranz“) den Forschenden zufolge ungeahnte Einblicke in die Entstehung und Behandlung von Autoimmunerkrankungen. Im nächsten Schritt wollen die Forschenden um Jumaa mithilfe des neuen Modells untersuchen, ob adaptive IgM-Antikörper bei der Behandlung oder Vorbeugung von Diabetes eingesetzt werden können. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist beispielsweise die Impfstoff-Entwicklung.

Originalpublikationen:
Amendt T &Jumaa H. Memory IgM protects endogenous insulin from autoimmune destruction. The EMBO Journal, 9. August 2021:e107621.
Preprint: Amendt T et al. Antibodies control metabolism by regulating insulin homeostasis. 2021