Allergien: Hygienehypothese falsch?2. Oktober 2023 Foto: Vasiliy Koval/stock.adobe.com Mehr Bakterien, weniger Allergien – bisher ging man davon aus, dass ein Übermaß an Hygiene und Desinfektion Allergien fördert. Eine kürzlich im Fachjournal „Science Immunology“ erschienene Studie im Mausmodell stellt die Hygienehypothese infrage. In den letzten Jahrzehnten hat sich zunehmend die Hygienehypothese durchgesetzt, die davon ausgeht, dass ein bestimmtes Maß an mikrobieller Exposition das Risiko Allergien zu entwickeln reduziert. Die internationale Studie stellt das infrage. Sie konnte zeigen, dass Mäuse mit hohen Infektionsraten ab der Geburt genauso gut – möglicherweise sogar besser – in der Lage sind, allergische Immunantworten zu erzeugen, wie keimfreie Labormäuse. Frühere Studien hatte nahegelegt, dass bestimmte Infektionen die Produktion entzündlicher Antikörper auf Allergene reduzieren und die Eigenschaften von T-Zellen beeinflussen, die an allergischen Reaktionen beteiligt sind. Auch, dass die „guten Bakterien“ des Darmmikrobioms möglicherweise Entzündungsreaktionen im Körper unterdrücken, wurde diskutiert. Die Studienautoren haben nun die allergische Immunantwort von mikrobiell belasteten Wildling-Mäusen mit der von üblicherweise keimfreien Labormäusen verglichen. Wildling-Mäuse sind Labormäuse, die als Embryonen in weibliche Mäuse vom Wildtyp transplantiert und von diesen ausgetragen und geboren wurden. Damit gleichen die Wildling-Mäuse den Labormäuse genetisch, wurden aber unter teilweise natürlichen Umständen aufgezogen, mit reichhaltiger mikrobieller Exposition ab der Geburt. Co-Autor Jonathan Coquet, Associate Professor in der Abteilung für Mikrobiologie, Tumor- und Zellbiologie am schwedischen Karolinska Institutet, zufolge repräsentiert das Immunsystem der Wildling-Mäuse das menschliche Immunsystem besser. Im Rahmen der Studie verglich das Team die Allergie-Antwort von Wildling-Mäusen und Labormäuse auf drei verschiedene Allergene. Sie fanden wenig Belege dafür, dass sich die Antikörper-Antwort der Wildling-Mäusen verändert oder dass die Funktion von T-Zellen unterschiedlich ausfiel. Auch die anti-inflammatorische Antwort, die durch „gute“ Darmbakterien ausgelöst wird, scheint nicht in der Lage zu sein, eine allergische Immunantwort zu unterbinden. Im Gegenteil: Die Wildling-Mäuse entwickelten deutliche Zeichen pathologischer Entzündung und allergischer Antworten, wenn sie Allergenen ausgesetzt waren. „Das war ein wenig unerwartet, aber es zeigt, dass man nicht einfach sagen kann ‚schmutzige Lebensstile stoppen Allergien, während saubere sie auslösen‘. Möglicherweise gibt es sehr spezifische Umstände, in denen dies zutrifft, aber es vielleicht keine allgemeingültige Regel“, erklärte Coquet. Die Forschenden vermuten, dass möglicherweise andere Umweltfaktoren oder Verhaltensweisen für die beobachtete Zunahme an Allergien verantwortlich sein könnten. Aber entkräftet die Studie wirklich die These, dass ein diverses Mikrobiom vor Allergien schützt? Prof. Eva Untersmayr-Elsenhuber, Leiterin der Forschungsgruppe Gastrointestinale Immunologie, Medizinische Universität Wien (Österreich), stellte fest, dass „das Manuskript eine ausgezeichnet durchgeführte, relevante Studie“ zusammenfasst, die neue Erkenntnisse im Zusammenhang zwischen zwischen dem Mikrobiom der Körperhautoberflächen und der Entwicklung von Allergien ermögliche. Untersmayr-Elsenhuber wendete aber ein, dass nur ein Aspekt der Hygienhypothese erfasst werde, nämlich die Kolonisierung der Körperoberflächen mit einem ‚natürlichen‘ Mikrobiom. Dies begrenze zwar nicht die Qualität der Studie, aber die Aussagekraft bezüglich der Hygienehypothese. Prof. Harald Renz, Direktor des Institutes für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie, Molekulare Diagnostik am Zentrum für Infektion, Entzündung und Immunität, Philipps-Universität Marburg, erklärte in einer Stellungnahme: „Die Studie belegt und widerlegt gar nichts. Keimfreie Mäuse sind ein wunderbares Modell, um gezielt den Einfluss von einzelnen Mikroben oder Mikrobenkombinationen zu testen, wenn man diese damit besiedelt. Komplett keimfreie Mäuse haben einen sogenannten Bias, eine erhöhte Anfälligkeit zur Entwicklung von Allergien – diese bekommen Allergien oder Asthma. Wenn man diese Mäuse nun gezielt mit ausgewählten Mikroben besiedelt – zum Beispiel durch eine Fäkaltransplantation – dann kann dieser Bias unterdrückt werden.“ Er hob auch hervor: „Es ist völlig unbestritten, dass das Mikrobiom den Schutz vor Allergien fördert, allerdings ist es noch nicht voll verstanden, welche Mikroben diesen Schutz vermitteln. Viele Faktoren spielen hier eine Rolle: Die Zusammensetzung der richtigen Keime zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und es ist noch nicht ganz klar, welche Keime da zusammengehören. In der vorliegenden Arbeit haben die Wildling-Mäuse ein Mikrobiom im Darm, das nicht vor Allergien schützt. Auch wenn das Mikrobiom eine hohe Diversität an Keimen aufweist, so schützen diese nicht vor der Ausbildung von Allergien, sondern befördern sie eventuell sogar.“ Die Forschenden zeigten in ihrer Studie auch, dass die Wildling-Mäuse mit diversen Mikroben besiedelt sind, so Renz, der erklärte: „Allerdings ist deren Diversität eher gekoppelt mit der Erkrankung, also eine Dysbiose. Um das aufzulösen, wäre der nächste große Schritt, das Mikrobiom zu zerlegen, um zu sehen, welche Keime hier zur Ausbildung der allergischen Reaktion beitragen.“ Den Einsatz von Mausmodellen in der Allergieforschung sieht er inzwischen „skeptischer“. Die Modelle bildeten immer nur einen Aspekt einer sehr komplizierten Erkrankung ab, und man könne die Forschungsergebnisse nicht auf das gesamte Krankheitsbild übertragen, so Renz weiter. (ja)
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