Anästhesiologie fordert Stärkung der Krisenvorsorge in Deutschland

Diskussion auf dem Parlamentarischen Abend des BDA (v.l.): BDA-Präsidentin Grietje Beck, Generaloberstabsarzt Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr, Moderatorin Miriam Hollstein, Ines Perea (BMG), Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, DGAI-Präsident Gernot Marx. (Foto: ©BDA)

Krisenfest oder verwundbar? Nach Ansicht von BDA und DGAI braucht Deutschlands Gesundheitssystem klare Strukturen für den Ernstfall.

Der Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) und die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) fordern, die Krisenvorsorge fest in der Gesundheitsplanung zu verankern und die Strukturen des Gesundheitswesens konsequent krisenfest auszurichten.

„Resilienz gelingt nur, wenn alle Akteure eng zusammenarbeiten und wir verbindlich in Entscheidungsprozesse einbezogen werden“, sagte BDA-Präsidentin Prof. Grietje Beck beim Parlamentarischen Abend des Berufsverbandes in Berlin. DGAI-Präsident Prof. Gernot Marx betonte im Rahmen der Veranstaltung: „Wir brauchen endlich digitale Lagebilder und klare Zuständigkeiten für den Ernstfall.“

Sicherheitspolitische Lage in Europa im Wandel

Die Forderungen der anästhesiologischen Fachverbände stehen in einem politischen Kontext, der die Dringlichkeit klar unterstreicht: Die internationale Sicherheitslage spitzt sich zu, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert Europas Stabilität und gleichzeitig steht das deutsche Gesundheitssystem inmitten tiefgreifender Reformen. Beim Parlamentarischen Abend des BDA diskutierten Expertinnen und Experten aus Politik, Medizin und Bundeswehr vor diesem Hintergrund unter der Moderation von Miriam Hollstein, Chefreporterin Politik des „Stern“, daher über die zentrale Frage: „Bedingt einsatzbereit? – Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin zwischen Klinikreform und Zeitenwende.“

Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr, machte deutlich, wie sehr sich seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine die sicherheitspolitische Lage verändert hat. Dies zeige, „dass wir uns fragen müssen, wie lange wir Frieden in Europa haben – und was wir tun müssen, damit er erhalten bleibt.“ Ein Konflikt an der NATO-Ostflanke würde Deutschland gesundheitlich, humanitär und logistisch stark fordern. Das Land müsse darauf vorbereitet sein, im Ernstfall große Zahlen Verwundeter und auch Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Zugleich befinde man sich bereits jetzt „in einer Form hybrider Bedrohung“. Ein widerstandsfähiges Gesundheitssystem sei daher auch Teil glaubwürdiger Abschreckung.

Anästhesiologie als tragende Säule der Krisenmedizin

An diese Einschätzung knüpfte Prof. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und BDA-Vertreter für den Bereich Notfallmedizin, an. Die Anästhesiologie mit ihren fünf Säulen Anästhesie, Intensiv-, Notfall, Schmerz- und Palliativmedizin bilde eines der zentralen Elemente der medizinischen Krisenbewältigung. Man habe in der Pandemie gezeigt, dass Versorgung auch unter extremen Bedingungen gesichert werden könne. Ein sicherheitspolitischer Ernstfall stelle jedoch völlig andere Anforderungen: Dann seien „jeder OP-Saal, alle verfügbaren Intensivkapazitäten und sämtliche personellen Ressourcen gleichzeitig und über einen langen Zeitraum“ gefordert.

Gräsner betonte zugleich, dass Deutschland bei der europaweiten Verteilung ukrainischer Verletzter bereits große Verantwortung übernehme – mehr als 90 Prozent der Patientinnen und Patienten, die über den Mechanismus verlegt würden, kämen nach Deutschland. Anästhesistinnen und Anästhesisten seien gut vernetzt, „aber ohne klare Strukturen, strategische Verlegungskonzepte und regelmäßige Übungen“ könne dieses Potenzial nicht ausreichend wirksam werden.

In der anschließenden Diskussion ordnete Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, die strukturellen Herausforderungen ein. Die bestehenden Kapazitäten seien „an vielen Stellen nicht geeignet, um Krisen zu bewältigen“. Tragfähige Vorsorge sei nur im engen Schulterschluss aller Akteure möglich.

Krankenhauskapazitäten in Echtzeit sichtbar machen

DGAI-Präsident Marx betonte die Notwendigkeit einer zentralen Instanz, die Krankenhauskapazitäten in Echtzeit sichtbar macht. Krankenhausinformationssysteme existierten in jeder Klinik, „aber sie sind nicht miteinander vernetzt und ermöglichen keinen deutschlandweiten Überblick über die Kapazitäten.“ Das müsse sich ändern. Technisch sei eine digitale Steuerung möglich, „es braucht aber politischen Willen“. Auch telemedizinische Netzwerke müssten verbindlich etabliert werden.

Ines Perea, Leiterin der Unterabteilung Gesundheitssicherheit im Bundesgesundheitsministerium, bestätigte, dass das Thema auch auf politischer Ebene mit neuer Dringlichkeit wahrgenommen werde. Das geplante Gesundheitssicherstellungsgesetz solle hier zentrale Voraussetzungen schaffen, ein Referentenentwurf sei für das kommende Jahr geplant. Im Anschluss folge das Parlamentarische Verfahren. Föderale Strukturen, komplexe IT-Landschaften und unzureichende Daten erschwerten zwar den Prozess, dennoch nutze man das derzeitige Momentum.

Für Marx ist die Zeitspanne bis zur Umsetzung zu lang. Die Anästhesiologie stehe bereit, ihre Expertise einzubringen: „Wir müssen konkret werden. Wir stehen zu Ihrer Verfügung – das ist unsere Verantwortung und unsere Pflicht. Nutzen Sie unser Wissen“, sagte er in Richtung Perea.

BDA fordert stärkere Einbindung

BDA-Präsidentin Prof. Dr. Grietje Beck betonte in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich die besondere Schnittstellenkompetenz der Anästhesiologie – vom Rettungsdienst über Notaufnahme und OP bis zur Intensivstation. Dieses Potenzial müsse konsequent genutzt werden. „Bitte beziehen Sie uns in Planungs- und Entscheidungsprozesse ein, nehmen Sie uns mit zu den Runden Tischen“, forderte sie.

Den Blick auf die praktische Vorbereitung richtete abschließend erneut Generaloberstabsarzt Hoffmann. „Üben kommt vor Können“, betonte er. Gemeinsame Trainingsformate müssten weiter intensiviert und durchgeführt werden. Für das kommende Jahr sei eine erste große Übung geplant, bei der zusammen mit zivilen Partnern aus Krankenhäusern, Ländern und Leitstellen realitätsnah geprobt werde. Nur so entstehe ein gegenseitiges Verständnis der Abläufe: „Nutzen Sie diese Angebote“, forderte er die Beteiligten auf.  

Das gemeinsame Fazit am Ende fiel eindeutig aus: Krisenvorsorge muss zu einem festen Bestandteil der Gesundheitsplanung werden. Dafür braucht es verlässliche digitale Lagebilder, eindeutig geregelte Zuständigkeiten und regelmäßige gemeinsame Übungen. Die Expertinnen und Experten waren sich einig: Wir müssen jetzt handeln! Deutschlands Anästhesistinnen und Anästhesisten bieten dabei ihre aktive Unterstützung an, sowohl in der Vorbereitung als auch in der Umsetzung.