Anstieg des Insulinspiegels nach Mahlzeiten: Doch nicht so schlecht?

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US-Forscher liefern mit einer neuen Untersuchung wichtige Informationen über den Zusammenhang zwischen dem Insulinspiegel nach dem Essen und der langfristigen Herz- und Stoffwechselgesundheit.

Mit ihrer Studie widerlegen die Wissenschaftler die Annahme, dass ein Insulinanstieg nach der Nahrungsaufnahme schlecht ist. Im Gegenteil – es könnte ein Indikator für eine gute Gesundheit sein.

Unter der Leitung von Dr. Ravi Retnakaran, klinischer Forscher am Lunenfeld-Tanenbaum Research Institute (LTRI) in Toronto (Kanada) sollte in der Studie untersucht werden, wie sich der Insulinspiegel nach den Mahlzeiten auf die kardiometabolische Gesundheit auswirkt. Während frühere Forschungen zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt haben und sowohl negative als auch positive Auswirkungen vermuten ließen, zielte die neue Studie darauf ab, über einen längeren Zeitraum hinweg ein klareres Bild zu liefern.

Bekanntermaßen steigt der Insulinspiegel nach dem Essen an, um den Blutzuckerspiegel zu regulieren. Es gibt die Auffassung, dass der Insulinanstieg, insbesondere nach dem Verzehr von Kohlenhydraten, die Gewichtszunahme fördert und zur Insulinresistenz beiträgt. „Es wurde die Vermutung geäußert, dass diese Insulinspitzen schädliche Auswirkungen haben, indem sie die Gewichtszunahme fördern“, erläutert Retnakaran, der auch als Endokrinologe am Leadership Sinai Center for Diabetes am Mount Sinai Hospital in Toronto tätig ist. Er ist außerdem Professor an der Temerty Faculty of Medicine der University of Toronto.

„Manchmal sehe ich Patienten in der Klinik, die die Meinung übernommen haben, vielleicht aus dem Internet oder aus dem, was sie lesen, dass ihr Insulinspiegel nicht zu hoch ansteigen darf“, berichtet Retnakaran. Forschungsergebnisse seien aber einfach nicht schlüssig genug, um diese Annahme zu stützen. Die meisten Studien zu diesem Thema seien entweder über einen kurzen Zeitraum durchgeführt worden oder basierten auf isolierten Insulinmessungen, die nicht ausreichten und irreführend sein könnten, führt der Mediziner aus.

Sein Team beschäftigte sich mit diesem Problem und untersuchte daher die kardiometabolischen Auswirkungen der Insulinreaktion langfristig und so, dass der Ausgangsblutzuckerspiegel berücksichtigt wurde. Letzteres ist laut den Forschenden von entscheidender Bedeutung, da jede Person eine individuelle Insulinreaktion hat, die je nachdem, wie viel Zucker sich im Blut befindet, unterschiedlich ausfällt.

Für die Studie untersuchte man frischgebackene Mütter, da die während einer Schwangerschaft auftretende Insulinresistenz es ermöglicht, das zukünftige Risiko für einen Typ-2-Diabetes zu bestimmen. 306 Teilnehmerinnen wurden in den Jahren 2003 und 2014 während ihrer Schwangerschaft rekrutiert und ein, drei und fünf Jahre nach der Geburt des Kindes umfassenden kardiometabolischen Tests unterzogen, wie Glukose-Provokations-Tests. Der Glukose-Provokations-Test misst den Glukose- und Insulinspiegel zu unterschiedlichen Zeitpunkten, nachdem eine Person ein zuckerhaltiges Getränk mit 75 Gramm Glukose zu sich genommen hat sowie nach einer Fastenphase.

Die Interpretation des Insulinspiegels aus dem Test wird zwar häufig in der medizinischen Praxis eingesetzt, kann jedoch irreführend sein, wenn der Ausgangsblutzucker nicht berücksichtigt wird. „Es geht nicht nur um den Insulinspiegel; es geht darum, sie in Bezug auf Glukose zu verstehen“, erläutert Retnakaran und weist darauf hin, dass hier viele frühere Interpretationen unzureichend waren. Eine bessere Messung sei die korrigierte Insulinreaktion (CIR), die den Ausgangsblutzuckerspiegel bestimmt und in diesem Bereich langsam an Bedeutung gewinnt, sagte er.

Die Studie brachte einige überraschende Trends zu Tage. Mit zunehmender korrigierter Insulinreaktion kam es zu einer deutlichen Erhöhung des Taillenumfangs, des HDL-Cholesterin-Spiegels, von Entzündung und der Insulinresistenz, wenn man Begleitfaktoren nicht berücksichtigte. Diese scheinbar negativen Trends gingen jedoch mit einer besseren Funktion der Betazellen einher.

„Unsere Ergebnisse stützen das Kohlenhydrat-Insulin-Modell der Adipositas nicht“, erklärt Retnakaran. „Wir haben beobachtet, dass eine robuste Insulinsekretionsreaktion nach der Provokation– wenn sie an den Glukosespiegel angepasst wird – nur mit den vorteilhaften Stoffwechseleffekten verbunden ist.“ Er fährt fort: „Eine starke Insulinsekretionsreaktion nach der Provokation weist nicht nur nicht auf eine negative kardiometabolische Gesundheit hin, sondern sagt vielmehr eine günstige Stoffwechselfunktion in den kommenden Jahren voraus.“

Langfristig gesehen waren höhere korrigierte Insulinreaktionswerte mit einer besseren Betazellfunktion und niedrigeren Glukosewerten verbunden, ohne mit dem Body-Mass-Index, dem Taillenumfang, mit Lipiden, Entzündungen oder der Insulinsensitivität oder -resistenz zu korrelieren. Am wichtigsten sei, dass Frauen mit der höchsten CIR ein deutlich geringeres Risiko dafür besaßen, in Zukunft an Prädiabetes oder Diabetes zu erkranken.

„Diese Studie stellt die Vorstellung infrage, dass ein hoher Insulinspiegel nach einer Mahlzeit von Natur aus schlecht ist, und ist ein wichtiger Fortschritt in unserem Verständnis der komplexen Rolle, die Insulin bei der Regulierung des Stoffwechsels spielt“, unterstreicht Anne-Claude Gingras, Direktorin des LTRI und Vizepräsidentin für Forschung im Krankenhausnetzwerk Sinai Health. Retnakaran hofft, dass die Ergebnisse der Untersuchung die Sichtweise von Medizinern und der Öffentlichkeit auf die Rolle von Insulin im Stoffwechsel und bei der Gewichtskontrolle verändern werden. Er sagt: „Es gibt Ärzte, die der Meinung sind, dass höhere Insulinspiegel schlecht sind, und die Patienten empfehlen, ihre Insulinschwankungen nach der Mahlzeit zu begrenzen. Aber so einfach ist das nicht.“