Auf dem Weg in eine bessere Zukunft – Interview mit Prof. Heide Glaesmer von der Universität Leipzig7. April 2023 Prof. Heide Glaesmer Foto: © Dirk Hofmeister Noch immer gilt der tierärztliche Beruf gemeinhin als „Traumberuf“, was wohl auch die Mehrheit der praktisch tätigen Tierärzte im Großen und Ganzen bestätigen würde. Die Berufsausübung geht jedoch mit einer hohen psychischen (und physischen) Belastung einher, wie zahlreiche Studien belegen. Prof. Heide Glaesmer ist Psychologische Psychotherapeutin und hat an Studien zum psychischen Befinden von Tierärzten und Tierärztinnen, sowie Studierenden der Tiermedizin mitgewirkt. Sie arbeitet an der Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig und befasst sich unter anderem mit der analytischen Epidemiologie depressiver Störungen und Suizidalität. Das Interview führte Tierärztin Sigrun Grombacher. Es ist in Kompakt VetMed 01/2023 erschienen. Frau Prof. Glaesmer, verschiedene Studien aus mehreren Ländern konnten belegen, dass Tierärzte ein erhöhtes Suizidrisiko haben. Trifft das auch in Deutschland zu? (Schwerdtfeger K et al., 2016) Glaesmer: Für Deutschland ist eine solche Aussage nicht möglich, weil die offizielle Suizidstatistik keine Berufsgruppen ausweist. Wir haben deshalb in Kooperation mit den Tierärztekammern eine große Onlinebefragung durchgeführt, an der mehr als 3100 Tierzärzte und Tierärztinnen teilgenommen haben. Das kann natürlich niemals eine repräsentative Stichprobe sein, weil die Teilnahme freiwillig war, aber es waren fast 8 % aller Tierärzte und wir haben eine breite Verteilung über alle Kammern erreichen können. Die Befunde wurden dann mit bevölkerungsrepräsentativen Daten verglichen. Fast jeder 5. Befragte gab Suizidgedanken an, in der Bevölkerung waren das nur 5,7 %. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Alters- und Geschlechtsverteilungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung war das Risiko für Suizidgedanken bei Tierärzten immer noch doppelt so hoch. Für depressive Symptome haben wir ähnliche Befunde, 27,8 % der Tierärzte, aber nur 4 % der Bevölkerung waren hier auffällig. Das Risiko bei den Tierärzten war auch unter Berücksichtung von Alters- und Geschlechtsverteilung etwa 3-mal so hoch. Außerdem haben wir einen Fragebogen eingesetzt, der das Suizidrisiko erfasst. Auch hier war das Risiko für Tierärzte und Tierärztinnen deutlich höher. Insgesamt sind unsere Befunde also ähnlich wie die aus den internationalen Studien, auch wenn wir ein anderes Vorgehen hatten. Sie weisen auch für Deutschland auf ein hohes Maß an Belastungen hin. Welche Hauptgründe konnten Sie identifizieren, die zu dem Wunsch, das eigene Leben aktiv zu beenden, geführt haben? Glaesmer: Die Frage ist noch nicht abschließend geklärt aus meiner Sicht und nicht alle Aspekte wurden in der Studie untersucht. Auffällig war in jedem Fall das hohe Maß an Arbeitsbelastungen, lange Arbeitszeiten, fehlende erlebte Belohnung, psychische Belastungen durch Euthanasien usw. Welche Unterschiede bestehen zur Humanmedizin? Glaesmer: Wir selbst haben keine Studien an Humanmedizinern durchgeführt, international ist das Suizidrisiko aber bei Tiermedizinern etwa doppelt so hoch wie bei Humanmedizinern. Beide teilen als Risikofaktor das Wissen um und den leichteren Zugang zu letalen Mitteln. In Gesprächen mit Tierärzten habe ich immer wieder gehört, dass Euthanasien ein wichtiger Belastungsfaktor sind und ein anderer wesentlicher Unterschied besteht in der Behandlungsfinanzierung – zumindest in Deutschland. Wenn ein Besitzer eine Behandlung nicht bezahlen kann oder will, wird diese in der Regel nicht durchgeführt. Unter ethischen Gesichtspunkten und persönlich sind das sicher schwierige Situationen. Damit ist ein Humanmediziner in Deutschland in der Regel nicht konfrontiert. Sollte nicht auch gelehrt werden, was das Führen von Mitarbeitern erfordert und welche zusätzliche Verantwortung das Leiten einer Praxis mit sich bringt? Glaesmer: Das haben wir nicht untersucht, aber sicher haben Sie recht. In vielen Berufen wird fachlich gut ausgebildet, aber eine gute Personalführung und Entwicklung ist nicht Gegenstand der Ausbildung. Kommt man dann in eine Führungsposition, muss man das irgendwie aber leisten – das klappt sicher nicht immer gut. Aus meiner Sicht sollte das auf jeden Fall Gegenstand der Aus- und Weiterbildung sein. Außerdem wünsche ich mir auch eine Gesprächsführungsausbildung für die Kommunikation mit den Besitzern. Wir haben immer wieder gehört, dass es da große Herausforderungen gibt, aber kaum Ausbildung. In der Humanmedizin ist das inzwischen ein etablierter Bestandteil des Studiums. Das würde ich mir für die angehenden Tierärzte auch wünschen. Was kann die Tierärzteschaft tun, um diese Missstände zu verbessern? Glaesmer: Ich glaube die inzwischen stattfindende Auseinandersetzung mit dem Thema ist ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung, die Verbesserung der Ausbildung scheint mir wichtig, ich glaube auch, dass in einigen Fällen Supervision eine gute Hilfe wäre, Personalführungskompetenzen sind sicher ein guter Ansatzpunkt und vor allem für die Berufsanfänger sollten die Arbeitsbedingungen besser werden. Vieles lässt sich sicher auch auffangen, wenn eine Vorbereitung auf den Beruf Bestandteil der Ausbildung wird. Dazu gehört für mich z.B. eine Auseinandersetzung mit Erwartungen und der Realität, die einen in der Praxis erwartet, Gesprächsführung usw. Was kann der einzelne Tierarzt/die einzelne Tierärztin, tun, um die eigenen Bedürfnisse „besser wahrzunehmen“? Glaesmer: Letztendlich ist das nicht anders als in vielen anderen Berufen, man sollte auf sich und seine Gesundheit achten, sich Austausch und Hilfe holen zum Beispiel. Ich bin Psychologin, bei uns ist Supervision und kollegiale Intervision etwas übliches. Ich glaube, dass das sehr hilfreich ist. Bei Studierenden der Veterinärmedizin sind die Zahlen noch alarmierender: Im Rahmen einer Studie gaben 45,9 % an, an Depressionen zu leiden – verglichen mit 3,2 % in der Allgemeinbevölkerung. Auch das Suizidrisiko erschien sehr hoch. (Schunter et al., 2022) Glaesmer: Ja, die Zahlen sind alarmierend und greifen zumindest auf, was auch von Lehrenden und Studierenden berichtet wird. Das Studium ist sehr anforderungsreich, die Prüfungen sind hart und psychische Belastungen sind offenbar sehr häufig. Bei der Studie muss man aber einschränkend sagen, dass wir eine relativ kleine Zahl an Studierenden erreichen konnten. Möglicherweise haben auch eher Studierende teilgenommen, die Belastungen erleben – es könnte also sein, dass die Befunde das Problem etwas überschätzen. Aber angesichts der Berichte, bin ich dennoch sicher, dass es ein hohes Maß an Belastungen gibt in der Studierendenschaft. Wo vermuten Sie mögliche Ursachen für diesen Umstand und wie kann er effektiv verbessert werden? Glaesmer: Ich habe keinen direkten Einblick in das Studium, weil ich dort nicht unterrichte. Ich höre aber immer wieder, dass es schon sehr anforderungsreich ist und die Prüfungen zum Teil sehr hart. Ob und wie man das verändern kann, können sicher die Lehrenden an den Fakultäten am besten beantworten. Es wäre aber sicher sehr hilfreich, Lernstrategien zu vermitteln, Gesprächsführungstrainings zu etablieren und mehr für gegenseitige Unterstützung unter den Studierenden und durch die Lehrkräfte zu tun. Zu den Praxisinhabern: Positiv könnte man attestieren: Tierärzte sind „Macher“, die Kehrseite der Medaille wirft die Frage auf: Sind sie „Einzelkämpfer“? Glaesmer: Wer in Einzelpraxis niedergelassen ist, ist ja am Ende ein Einzelkämpfer und für seine Mitarbeitenden auch mit verantwortlich. Da kann man schon irgendwie verstehen, wenn der Schritt in eine Behandlung schwer ist. Dennoch ist es sehr wichtig, sich Hilfe zu holen bei ernsthaften psychischen Problemen. Oft kommt man sonst nicht mehr selbst raus. Ein sehr hoher Prozentsatz der Studierenden der Veterinärmedizin ist weiblich, somit strömen zukünftig weiterhin vermehrt Tierärztinnen auf den Arbeitsmarkt. Was für Auswirkungen hat dies und wie kann dem Rechnung getragen werden? Glaesmer: Auf jeden Fall spielt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dann eine wichtige Rolle, übrigens nicht nur bei Frauen. Zum Glück ändert sich hier das Rollenverständnis insgesamt. Gehören Diskussionsteilnehmer unterschiedlichen Generationen/ Geschlechtern/soziokulturellem Background an, tun sich häufig gravierende Verständnisprobleme zwischen den Gruppen auf. Wie schließen wir den Graben zwischen der Perspektive der älteren/mittleren Generation von Tierärzten und den jungen Tierärzten respektive Berufseinsteigern? Glaesmer: Ja, das ist sicher eine große Herausforderung. Ich wünsche mir sehr, dass es eine Vereinbarkeit des Berufs mit Familie und Kindern und mit Freizeit und Hobbies gibt. Das scheint mir der beste Schutz vor psychischen Belastungen. Oft ist das sicher schwer zu akzeptieren, dass sich die Haltung zur Arbeit in der nachwachsenden Generation ändert. Aber, das wird sich wohl zwangsläufig etablieren müssen. Austausch und Gespräche sind da sicher hilfreich. Liebe Frau Prof. Glaesmer, herzlichen Dank für das Gespräch.
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