Bei der Digitalisierung hakt es noch mächtig5. Oktober 2022 “Das ist die Zukunft, das muss so kommen.” IT-Experte Christian Götze (KVSH). Foto: Schmitz Viel Frustration mussten die Ärzte erleben, die sich mit den gesundheitspolitisch gewollten Digitalisierungsprojekten auseinandergesetzt haben. Dies wurde deutlich im Berufspolitischen Forum beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) am 22.09.2022 in Hamburg. Es gibt aber auch positive Ansätze – bei Selektivverträgen. „Die Digitalisierung kann uns helfen, die Herausforderungen der Zukunft im Gesundheitswesen besser zu lösen“, hieß es zunächst noch hoffnungsvoll von Dr. Catrin Steiniger, Präsidentin des Berufsverbands der Deutschen Urologen (BvDU). Doch die Realität sieht derzeit anders aus: „Aktuell beschäftigen uns stattdessen Konzepte und Systeme, die nicht funktionieren und für welche die Urologinnen und Urologen zusätzlich die Kosten tragen.“ Gerade sei gegen die Stimmen der Ärzte beschlossen worden, 350 Millionen Euro für den Austausch der Konnektoren der Telematikinfrastruktur (TI) auszugeben, da deren Sicherheitszertifikate auslaufen – Geld, das nach Steinigers Ansicht deutlich sinnvoller verwendet werden könnte. „Der Berufsverband setzte sich dafür ein, dass die Kosten für Praxen vollumfänglich finanziert BvDU-Präsidentin Catrin Steiniger fordert “Entlastung, statt Vermehrung der Arbeit”. Foto: Schmitz werden“, so Steiniger. Immerhin habe das Bundesschiedsamt jetzt 2300 Euro pro Praxis für den Konnektortausch festgelegt. Dies sei zwar nicht kostendeckend, sei aber deutlich mehr, als die Krankenkassen zahlen wollten. „Wir fordern eine Entlastung der Arbeit und nicht, wie es jetzt aussieht, eine Vermehrung der Arbeit“, betonte die BvDU-Präsidentin. Auch die Patienten seien oft überfordert: „Wir müssen bedenken, dass die Anwender – und das sind in urologischen Praxen vorwiegend ältere Personen – teilweise mit dieser digitalen Welt gar nicht umgehen können. Es kann aber nicht sein, dass die Ärztinnen und Ärzte oder die Medizinischen Fachangestellten in den Praxen und Krankenhäusern die Patienten schulen. Das ist eine zentrale Aufgabe des Spitzenverbandes der Krankenkassen und des Bundesgesundheitsministeriums.“ eArztbrief, ePA, eAU, eRezept: Einführung mit Hindernissen Aus Sicht einer Landes-KV stellte Christian Götze, Fachbereichsleiter IT-Telematik bei der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH), die Notwendigkeit und den aktuellen Stand der einzelnen Digitalisierungsprojekte vor. Dem elektronischen Arztbrief (eArztbrief) und der elektronischen Patientenakte (ePA) ist gemeinsam, dass sie, so Götze, „noch nicht im Praxisalltag angekommen“ sind. Beim eArztbrief sei jedoch die Integration in die Praxissysteme abgeschlossen, mit einem „sicheren Versanddienst“ namens „Kommunikation im Medizinwesen“ (KIM). Das Versenden eines eArztbriefes werde jedoch häufig als umständlich empfunden, berichtete Götze von den Rückmeldungen der Ärzte an die KV. Da würden noch Brief und Fax bevorzugt, da sie als einfacher angesehen würden. „Unsere Empfehlung: Nutzen Sie den eArztbrief. Es ist gesetzlich vorgeschrieben. Es ist der Druck aus der Politik und der Gesellschaft da, diese Herausforderung anzunehmen. Trauen Sie sich ran!“ Die ePA hat sich im Alltag überhaupt noch nicht durchgesetzt. „Es ist umständlich, dass der Patient sich das von der Krankenkasse einrichten lässt und dann auch Ihnen in der Praxis den Zugriff darauf gewährt“, so Götze. Der Zugriff der Praxis nach Freigabe durch den Patienten habe sich als nicht praxistauglich erwiesen. Die Krankenkassen seien zurückhaltend in der Ausgabe an Versicherte, „weil sie wissen, dass es für sie ein Riesen-Verwaltungsaufwand ist und der Nutzen noch nicht da ist“. Von der Politik werde derzeit ein „Opt-Out“-Verfahren avisiert, um die Verbreitung der ePA zu steigern. Dabei würde für jeden Versicherten eine ePA angelegt, es sei denn, er widerspricht. Auch bei der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) war der Anfang sehr schwierig. „Was in den ersten vier Wochen passiert ist, war dramatisch“, resümierte Götze: Man konnte in einigen Praxen mit gewissen Konstellationen gar keine AU mehr ausstellen. „Die Startschwierigkeiten sind jetzt aber überwunden“, sagte der Experte, die Fehlerquote liege unter einem Prozent „Die eAU ist auf dem Weg in den Praxisalltag“, ist der IT-Spezialist überzeugt. „Das ist die Zukunft, das muss so kommen und das ist auch nicht schlecht.“ Am 1.1.2023 würden auch die Arbeitgeber angeschlossen, kündigte er an. Diese könnten sich die eAU dann direkt von dem Krankenkassen-Server abrufen. „Irgendwann wird dieser Prozess dann auch rund.“ Vom eRezept wurden nach Götzes Angaben inzwischen fast 250.000 Rezepte eingelöst (Stand 15.09.). Hier gibt es noch einige Fallstricke, welche die Umsetzung behindern: Zum einen braucht der Patient dafür eine neue Versichertenkarte mit persönlicher Identifikationsnummer (PIN) und die Gematik-App, auf die das Rezept gebucht wird. Zudem müssen zwar eigentlich seit dem 01.09.2022 alle Apotheken angeschlossen sein, jedoch müssen diese Apotheken sich auch als „eRezept-ready“ zu erkennen geben. Andere wiederum haben das getan, aber die Mitarbeiter noch gar nicht im Umgang damit geschult, sodass der Patient im Endeffekt sein eRezept nicht einlösen kann. „Grundsätzlich sind die Systeme aber fertig, die Wege sind da, es wurden sogar schon Rezepte eingelöst, es funktioniert“, beschrieb Götze den aktuellen Stand beim „eRezept“. Ärzte als Versuchskaninchen Wie es tatsächlich in der Praxis aussieht, schilderten Dr. Olrik Rau aus Wernigerode (Sachsen-Anhalt) und Dr. Michael Rug aus Karlsruhe (Baden-Württemberg). „Ich bin keiner, der sich dem verweigert“, betonte Rau, doch seine Erfahrungen mit den Digitalisierungsprojekten bezeichnete er als „desaströs“. Beispiel eAU: „Bei mir in der Praxis läuft die eAU relativ problemlos, allerdings erst, seit ich zum 1. September meine Praxissoftware umgestellt habe.“ Seine Assistentinnen hätten inzwischen „Nerven, die sind so dünn und so kurz wie meine Haare“, berichtete er. Rau führte Zahlen einer Umfrage in Sachsen-Anhalt an, nach der 89 Prozent der niedergelassenen Ärzte weiterhin das alte System benutzen – also den Durchschlagvordruck Muster 1 mit Nadeldrucker. Circa acht Prozent der Praxen versenden eAU, jedoch gelingt dies nur sechs Prozent ohne ersatzweise Nutzung anderer Verfahren. Drei Prozent der Praxen bescheinigen die AU mit dem neuen Verfahren, können aber nicht digital versenden. „Unsere Praxis nutzt nur noch das neue System“, so Rau. „Ich sage meinen Patienten: Ich habe das jetzt weggeschickt, Sie kriegen von mir gar nichts mehr, ich schicke alles an Ihre Krankenkasse. Aus lauter Frust schicke ich den Patienten dann nach vorne, und heimlich drucken meine Schwestern dann noch mal zwei Seiten aus. So ist es.“ Olrik Rau: „Völlig unbefriedigend, was uns angeboten wird“. Foto: Schmitz Auch bei den eArztbriefen, für die Rau seine Praxis ist der frühen Phase als Testpraxis zur Verfügung stellte, gab es extreme Anlaufschwierigkeiten. „Ich habe 199 eArztbriefe, die auf Versenden warten. Die habe ich erstellt, die habe ich versandt, die habe ich signiert mit meinem elektronischen Heilberufeausweis – aber sie wurden nicht versandt. Entweder nicht rausgegangen, nicht angenommen, was auch immer.“ Mit dem Absturz der Kartenlesegeräte startete dann „der nächste Frustangriff auf uns“, so Rau. Wie das c’t-Magazin (Heise Medien) herausfand, war der Grund dafür, dass sich die Chips, welche die Kommunikation der Geräte über kurze Distanzen (near field communication, NFC) bewerkstelligen sollen, sich bereits an der Luft aufladen, „Diese Luftaufladung reicht schon, um dem NFC-Chip so viel Strom zu geben, dass unsere Kartenlesegeräte außer Kraft gesetzt werden“, berichtete der Urologe. „Weder die Barmer noch die AOK wollte dem c’t-Magazin diese neuen Karten zum Testen zur Verfügung stellen, weil sie genau wussten, was herauskommt. Aber wir werden weiter als Testpersonen dafür verwendet, solche unausgegorenen Sachen durchzuführen. Das geht einfach nicht!“ empörte sich der Arzt. „Meistens ist es ja so: Wenn irgendetwas mit einer Software nicht funktioniert, dann liegt es meistens nicht am System, sondern der Idiot sitzt vor dem Bildschirm“, gestand Rau zu. „Aber ich möchte auch mal eine Lanze brechen für uns Kollegen, die wir uns jeden Tag damit herumärgern. Es ist immer noch völlig unbefriedigend, was uns mit KIM-Nachrichten oder der Telematik-Infrastruktur angeboten wird.“ Heile E-Welt in Selektivverträgen? Wie es besser laufen könnte, schilderte Kollege Rug aus Baden-Württemberg. Dort gibt es einen Vertrag zur hausarztzentrierten Versorgung und Facharztverträge für Urologie und andere Fachbereiche (wir berichteten). „Durch die Vernetzung im Selektivvertrag haben wir schon ein System gehabt, das sich angeboten hat, eine elektronische Vernetzung zu implementieren“, sagte Rug. Die elektronische Arztvernetzung sei mit einem Software-Modul in die HzV-Software integriert, ohne dass spezielle Hardware wie ein Konnektor erforderlich wäre. Der Austausch ärztlicher Behandlungsdaten ist zudem unabhängig von der Bereitstellung in einer ePA, denn der Patient stimmt bei der Teilnahme am Selektivvertrag zu, dass die Ärzte miteinander elektronisch kommunizieren können. Michael Rug: “Den großen Frust gab es bei uns nicht.” Foto: Schmitz Auch eAU, eArztbrief und Medikationsplan sind integriert, wie Rug berichtete. Der Vorteil für den Arzt: „Anstatt einer unzureichenden Kostenerstattung erfolgt eine angemessene Vergütung.“ Gut für die Krankenkasse: „Die AOK hat verstanden, dass sie dadurch Geld spart, weil keine Rezepte mehr eingelesen werden müssen. Der Medienbruch, etwas Digitales auszudrucken, das rüberzutragen und da wieder einzuscannen, bindet unheimlich Arbeitskraft und kostet unnötig viel Geld.“ Inzwischen wurden laut Rug mehr als zwei Millionen eAU, allein für die AOK und Baden-Württemberg, erstellt. Etwa die Hälfte der Ärzte sei in der HzV, bei den Facharztverträgen betrage die Quote 30 Prozent, insgesamt 2441 Ärzte nehmen teil. „Die Zahlen zeigen, dass das System auch gelebt wird.“ Rugs Fazit: „Die Funktionen funktionieren. Den großen Frust gab es bei uns nicht.“ „Ihr habt ein anderes System“, kommentierte eine Teilnehmerin aus dem Publikum. Auf Nachfrage erklärte Rug, dass er für die Patienten, die nicht an den Selektivverträgen teilnehmen, KIM benutzt, und gestand dann doch zu, dieses System sei „frustran“, da Adressen häufig nicht gefunden würden. Dr. Michael Stephan-Odenthal aus Leverkusen hatte in der Diskussion zuvor bereits das Problem erwähnt, dass die Kommunikation per KIM mit Krankenhäusern oft nicht funktioniere, weil hier theoretisch jede Abteilung eine eigene Adresse bräuchte. Schließlich brachte IT-Experte Götze die Problematik auf den Punkt, die besonders in Deutschland oft das Chaos produziert: Eine Vielzahl von Institutionen und Personen ist in die Entwicklung der Systeme involviert, doch „die Leute, die damit arbeiten müssen, die werden oft nicht gehört.“ (ms)
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