Beurteilung von Schmerzen durch Dritte: Mimik relevanter als verbale Angaben19. November 2025 Einem schmerzverzerrten Gesicht wird in einigen Situationen offenbar stärker geglaubt als der bloßen verbalen Äußerung von Schmerzen. (Symbolfoto: ©My Ocean studio/stock.adobe.com) Zur Einschätzung der Schmerzen anderer Menschen scheint deren Mimik eine stärkere Rolle zu spielen als ihr verbal geäußertes Empfinden – zumindest wenn bei der schmerzgeplagten Person ein Vorteil durch die Äußerung von Schmerzen vermutet wird. Wir alle schätzen regelmäßig – bewusst oder unbewusst – die Schmerzen anderer Menschen ein: als Partnerinnen oder Partner, Eltern, Angehörige oder Mitarbeitende im Gesundheitswesen. Dabei orientieren wir uns zum Beispiel am Gesichtsausdruck oder an verbalen Schilderungen. Wie stark diese Hinweise bei der Beurteilung des Schmerzempfindens berücksichtigt werden, hängt offenbar vom sozialen Kontext ab. Eine aktuelle Studie der Abteilung für Klinische Psychologie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) unter der Leitung von Prof. Christiane Hermann zeigt: Wenn durch den sozialen Kontext der Verdacht besteht, dass jemand durch die Darstellung von Schmerz einen Vorteil erlangen könnte, verlassen sich Menschen bei der Beurteilung des Schmerzes anderer vor allem auf deren Gesichtsausdruck. Experimentelle Studie zur Beurteilung der Schmerzintensität An der Studie nahmen 106 Personen teil, die zunächst in verschiedene soziale Situationen eingeführt wurden. Ihnen wurde berichtet, es gehe um Patientinnen und Patienten, die wegen chronischer Schmerzen in einer Schmerzklinik seien. Dann sahen die Teilnehmenden Videoclips von Frauen, die unterschiedlich starke Schmerzen beschrieben und Gesichtsausdrücke zeigten, die Schmerz signalisierten oder nicht. Diese stammten aus einem anderen Forschungsprojekt und zeigten Personen, die während der Aufnahme tatsächlich Schmerzen hatten. Die Teilnehmenden, die diese Videos sahen, sollten anschließend sowohl die Schmerzintensität einschätzen als auch angeben, wie schwierig sie die Bewertung fanden. Abschließend beurteilten sie anhand von Fotos, wie sympathisch ihnen die in den Videos gezeigten Frauen erschienen. Widersprüchliche Hinweise besonders schwierig zu beurteilen Ihre Studienergebnisse publizierte die JLU-Forscherinnengruppe kürzlich im „Journal of Pain“. In Kontexten, in denen die Beurteilenden den Eindruck hatten, dass jemand durch die Darstellung von Schmerz einen Vorteil erzielen könnte – in der Studie war es eine (hypothetische) neue, sehr kostspielige Behandlungsmethode –, verließen sie sich stärker auf die Gesichtsausdrücke und weniger auf verbale Schmerzangaben. Widersprüchliche Hinweise, etwa wenn das Gesicht Schmerzen zeigte, die Person aber von geringen Schmerzen sprach, wurden als besonders schwierig zu beurteilen empfunden. Zudem schätzten die Teilnehmenden Fotos der Frauen, die in den Videos ihre Gesichter vor Schmerz verzogen hatten, als weniger sympathisch ein. „Zentrales Dilemma in der Schmerzkommunikation“ „Unsere Studie macht ein zentrales Dilemma in der Schmerzkommunikation deutlich: Verbale Schmerzangaben werden häufig als absichtlich und potenziell manipulierbar wahrgenommen, weshalb ihnen – je nach sozialem Kontext – weniger Vertrauen entgegengebracht wird“, so Erstautorin Dr. Judith Kappesser. Gesichtsausdrücke des Schmerzes gelten dagegen als glaubwürdiger, führen jedoch dazu, dass die betroffenen Personen weniger positiv wahrgenommen werden. Kappesser betont: „Vor allem Beschäftigte im Gesundheitswesen sollten für den Einfluss sozialer Kontexte auf die Schmerzbeurteilung sensibilisiert und in schwierigen Entscheidungssituationen unterstützt werden – ganz im Sinne des Psychologen Daniel Kahneman, der empfahl: ‚Menschen sollten Situationen erkennen, in denen sie anfällig für Verzerrungen sind – und dann ihre eigenen Urteile hinterfragen.‘“ Derzeit läuft eine weitere Studie in der Abteilung für Klinische Psychologie, bei der geprüft wird, ob sich die Ergebnisse auch auf Männer mit Schmerzen übertragen lassen. Zudem wollten die Forscherinnen herausfinden, ob das Alter der Frauen und Männer in den Schmerzvideos eine Rolle spielt für die Beurteilung des Schmerzes durch Dritte.
Mehr erfahren zu: "EHDS und EU-HTA: Gesundheitsdaten und Arzneimittelbewertung vereinheitlichen" EHDS und EU-HTA: Gesundheitsdaten und Arzneimittelbewertung vereinheitlichen Die EU-Staaten rücken mit dem Start des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) und des europäischen Nutzenbewertungsverfahrens (EU-HTA) zusammen. Experten diskutierten den Nutzen von EHDS und EU-HTA mit Blick auf den Datenschutz im […]
Mehr erfahren zu: "Rezeptor mit „Gummiband“: Ansatzpunkt für neue Schmerz- und Krebs-Medikamente" Rezeptor mit „Gummiband“: Ansatzpunkt für neue Schmerz- und Krebs-Medikamente Der menschliche P2X4-Rezeptor spielt bei chronischen Schmerzen, Entzündungen und manchen Krebsarten eine zentrale Rolle. Bonner Forschende haben nun einen Mechanismus aufgeklärt, über den sich der Rezeptor hemmen lässt. Die in […]
Mehr erfahren zu: "Warken setzt auf Lösung für gestopptes Sparpaket für stabile Krankenkassenbeiträge" Warken setzt auf Lösung für gestopptes Sparpaket für stabile Krankenkassenbeiträge Ein Sparpaket für stabile Krankenkassenbeiträge, das die Gesundheitsausgaben bremsen soll, steckt vorerst fest. Die Ministerin zeigt sich zuversichtlich – und wirbt für größere Reformen.