Blickverhalten: Auch Sehen will gelernt sein

Mit dem temporären Exponat „Millionen Augenblicke“ konnten die Wahrnehmungsforscher im Gießener Mathematikum Tausende von Daten erheben. Kinder im Versuchsaufbau. Der Aufbau entstand gemeinsam mit Wissenschaftlern der Wahrnehmungsforschung der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU).Foto.©Ben de Haas

Blickbewegungen entwickeln sich bis ins junge Erwachsenenalter. Das zeigen die Ergebnisse der Citizen-Science-Studie, für die im Gießener Mathematikum im Rahmen einer Mitmachausstellung Daten gesammelt wurden.

Menschen betrachten ihre Umgebung nicht rein zufällig: Wenn wir eine Alltagsszene anschauen, bewegen wir unsere Augen mehrmals pro Sekunde, um verschiedene Details in den Blick zu nehmen. Dabei ziehen bestimmte Bereiche – etwa Gesichter oder Textelemente – unsere Aufmerksamkeit besonders auf sich. Aber wie entwickelt sich dieses Blickverhalten? Und wann ist es „ausgereift“? Bisher gingen Forscher davon aus, dass die Entwicklung typischer Blickbewegungsmuster bereits im Grundschulalter abgeschlossen ist. Eine neue Studie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), an der Tausende Menschen beteiligt waren, zeigt nun: Blickverhalten entwickelt sich bis ins junge Erwachsenenalter. Die Ergebnisse der Studie sind im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ erschienen.

Das Team um Dr. Marcel Linka und Prof. Ben de Haas von der Abteilung für Allgemeine Psychologie der JLU analysierte die Blickbewegungen von über 6700 Personen im Alter von fünf bis 72 Jahren. Möglich wurde dies durch eine Kooperation mit dem Mitmach-Museum Mathematikum in Gießen: Dort war die speziell entwickelten Eye-Tracking-Station „Millionen Augenblicke“ über ein Jahr lang Teil der Ausstellung. Besucherinnen und Besucher konnten ihre Blickbewegungen vermessen lassen und die so gewonnen Daten für die Forschung „spenden“. Insgesamt wurden mehrere Millionen Blickbewegungen beim Betrachten von 40 Alltagsszenen aufgezeichnet.

Blickverhalten entwickelt sich langsamer als gedacht

Dabei zeigte sich: Kinder und Jugendliche erkunden Bilder anders als Erwachsene. So richten jüngere Kinder ihren Blick zum Beispiel häufiger auf Hände oder berührte Objekte und seltener auf Textelemente. Sie bewegen ihre Augen auch seltener horizontal durchs Bild.

„Wir waren überrascht, dass erwachsenes Blickverhalten sich so langsam entwickelt – über fast zwei Jahrzehnte“, äußert Marcel Linka, Erstautor der Studie. Ein möglicher Grund dafür: „Unsere Wahrnehmung verändert sich mit der Erfahrung. Dinge, die wir häufig sehen – wie zum Beispiel Bücher, Bildschirme oder Straßenschilder – könnten unsere Art zu schauen formen.“

Blickmuster werden ähnlicher

Ein weiteres Ergebnis: Die Blickmuster verschiedener Personen werden im Verlauf der Jugend immer ähnlicher. Während Elfjährige Szenen noch auf sehr unterschiedliche Weise erkunden, sind Erwachsene sich einiger, welche Elemente sie genauer in den Blick nehmen.

„Wie lernt unser Gehirn im Laufe des Lebens, die „interessanten“ Teile eines Bildes zu erkennen und unsere Augen gezielt dorthin zu lenken?“, fragt de Haas. Er führt aus: „Wir vermuten, dass Erwachsene „mentale Landkarten“ für typische Szenen entwickeln, also erfahrungsabhängige Vorstellungen davon, welche Bildelemente wichtig für das Verständnis einer Szene sind und wo sie zu erwarten sind“.

Künftig will das Team untersuchen, ob und wie das Betrachten von Szenen zum Beispiel von kultureller Erfahrung abhängt, oder sich für die Diagnostik von besonderen Seh- und Lernvoraussetzungen eignet. „Wenn wir wissen, wie sich der Blick über die Jahre verändert, können wir besser einschätzen, was Kinder brauchen, um die Welt zu verstehen“, so de Haas.

Das Team ist Teil des kürzlich neu bewilligten Exzellenzclusters TAM – The Adaptive Mind, in dem unter der Federführung der JLU universelle Prinzipien der Anpassungsfähigkeit und Wahrnehmung untersucht werden.

Für Studieninteressierte, die tiefer in die Wahrnehmungsforschung einsteigen möchten, bietet die JLU im Rahmen ihrer forschungsorientierten Lehre den englischsprachigen Master-Studiengang Mind, Brain and Behavior an.