Bundesverfassungsgericht kippt Triage-Regel aus der COVID-19-Pandemie

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2022 hat der Bund die Triage-Regelungen im Infektionsschutzgesetz angepasst. Doch der Bund ist gar nicht zuständig, wie das Bundesverfassungsgericht in einem aktuellen Urteil feststellte. Der Ball liegt nun bei den Ländern – es droht ein Flickenteppich.

Ein Großteil der Maßnahmen, die während der Coronapandemie erlassen wurden, zielte darauf ab, das Schreckensszenario überlasteter Intensivstationen zu vermeiden. Vorsorglich hatte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Jahr 2021 eine S1-Leitllinie herausgegeben, die empfiehlt, wie in Triage-Situationen idealerweise zu handeln ist. Die Empfehlungen berücksichtigten auch das Kriterium der Gebrechlichkeit sowie Vorerkrankungen. Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung fürchteten aufgrund dessen eine Diskriminierung und legten Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.

Daraufhin passte die damalige Bundesregierung die Triage-Regelungen im Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (§5c im Infektionsschutzgesetz − IfSG) an. Das Gesetz legte fest, dass über eine Zuteilung von Patientinnen und Patienten im Krisenfall einer Pandemie „nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ zu entscheiden ist und ausdrücklich nicht nach Lebenserwartung oder Grad der Gebrechlichkeit. Damit sollte eine Benachteiligung von Patientinnen und Patienten aufgrund von zum Beispiel Alter oder Gebrechlichkeit verhindert werden. Mit Unterstützung des Marburger Bundes hatten 14 Fachärztinnen und Fachärzte jedoch Verfassungsbeschwerde gegen diese Regelung eingelegt. Sie hatten geltend gemacht, dass die Triage-Regelung gegen ihre Grundrechte aus Artikel 12 Absatz 1 GG (Berufsfreiheit) verstößt.

Am Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht nun sein Urteil gefällt. Mit Blick auf die inhaltlichen Fragen der Triage bringt es jedoch keine Klarheit. Die Richterinnen und Richter erklärten die Regelung lediglich wegen fehlender Bundeskompetenz für nichtig. Der Eingriff in die Berufsfreiheit sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, heißt es in einer Mitteilung des Bundesverfassungsgerichtes. Die Regelungskompetenz liegt nun bei den Ländern.

Stärkung ärztlicher Berufsfreiheit – aber drohender Flickenteppich

„Das Bundesverfassungsgericht betont in seinem Beschluss die ärztliche Therapiefreiheit und unterstreicht somit, dass medizinische Entscheidungen in Extremsituationen nicht durch bundesgesetzliche Vorgaben ersetzt werden dürfen“, sagt Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Die Bundesärztekammer hatte die Klage inhaltlich unterstützt. „Der Beschluss stärkt die ärztliche Berufsausübungsfreiheit und stellt sicher, dass medizinische Entscheidungen auf Basis der medizinisch-fachlichen Beurteilung und der Situation der Patientinnen und Patienten getroffen werden können“, so Reinhardt weiter.

Auch Prof. Christian Karagiannidis, Leiter des ECMO-Zentrums am Klinikum Köln-Merheim, begrüßt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die ärztliche Berufsfreiheit und Entscheidung erst einmal stärkt. Mit der Weiterreichung der Regelungskompetenz an die Länder schaffe das Urteil aber noch keine Klarheit. Hingegen drohe nun ein Flickenteppich der Regelungen der 16 Bundesländer. „Stand heute wären wir damit erstmal auf dem Stand vor der Pandemie“, meint Karagiannidis, der auch Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung ist.

Rechtsprofessor Stefan Huster warnt ebenfalls vor einem Flickenteppich der Triage-Vorgaben. Zusätzlich richtet er das Augenmerk auf die Betroffenen. So bleibe der Anspruch von Menschen mit Behinderung auf gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung weiter unerfüllt. „Wobei sie mit der Regelung des Paragrafen 5c des IfSG ja auch nicht zufrieden waren“, schränkt Huster ein.

Worin lag die inhaltliche Kritik an der Triage-Regelung?

Ärztinnen und Ärzte bräuchten im Falle von Triage-Situationen konkrete Entscheidungskriterien. Die Formulierung im Infektionsschutzgesetz sei zu unkonkret gewesen, erläutert Prof. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die Kritik aus der Ärzteschaft an dem Gesetz. Dieses untersagte auch die Reevaluation von bereits auf der Intensivstation befindlichen Patienten (die sogenannte Ex-Post-Triage), was unter Experten ebenfalls auf Ablehnung stieß.

„Das Verbot hätte es – und das nicht nur unter Pandemiebedingungen – Ärztinnen und Ärzten deutlich erschwert, notwendige Therapiezieländerungen im klinischen Alltag umzusetzen“, erklärt Prof. Gernot Marx, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). Diese Anpassungen seien jedoch gelebte Praxis in der Intensivmedizin.

Laut dem Münchner Ethikprofessor Georg Marckmann habe es sich um eine „ethisch schlecht begründete und medizinisch widersprüchliche Regelung“ gehandelt. Zwar hält Marckmann es für sinnvoll, dass der Gesetzgeber Vorgaben für Kriterien und allgemeine Verfahrensgrundsätze formuliert, nach denen sich Ärztinnen und Ärzte bei Triage-Entscheidungen richten sollten. „Die konkrete Ausgestaltung der Kriterien sollte – wie bei der Organverteilung – aber dann der Ärzteschaft überlassen werden.“ Der §5c IfSG sei zum Beispiel mit dem Ausschluss der Gebrechlichkeit zu weit gegangen.

Triage-Entscheidung erfordert differenzierte Beurteilung

Der Hamburger Intensivmediziner Kluge verdeutlicht: „Wenn man ehrlich ist, wird weltweit nach den Kriterien, die auch die DIVI damals aufgestellt hat, entschieden. Und dabei spielt auch das biologische Alter eine Rolle. Wenn ich einen 85-jährigen Patienten habe oder einen 18-Jährigen mit der gleichen Erkrankung und ich habe nur ein Intensivbett, dann muss man sagen – auch wenn das keiner aussprechen möchte –, dass bei gleicher Erkrankungsschwere der 18-Jährige das Bett bekommt. Die Erfolgsaussicht, also die Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankungssituation zu überleben, ist das wichtigste Kriterium für die Priorisierung.“

Ferner hebt Kluge hervor, es gebe eine Abgrenzung zwischen Behinderung und schwerster Einschränkung. „Wenn jemand apathisch im Pflegeheim lebt, ist diese Person natürlich auch beeinträchtigt, jedoch anders, als wenn jemandem der linke Arm amputiert wurde. Beide würde ich bei einer Triage anders berücksichtigen.“

Die Experten geben zu bedenken, dass es sich bei diesen Szenarien bislang ausschließlich um theoretische Überlegungen handelt. Das Gesetz selbst kam nie zur Anwendung. Es wurde zu einem Zeitpunkt beschlossen, als die kritischste Phase der Pandemie bereits vorbei war. Laut Kluge gab es in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten keine Situation, in der es zu einer Triage gekommen ist.

Ausblick

Dennoch bleibt die Frage, nach welchen inhaltlichen Kriterien knappe Intensivbetten nun im Falle einer Überlastung der Strukturen zugeordnet werden. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken kündigte bereits an, gemeinsam mit den Ländern zügig einen bundesweiten Konsens zu erarbeiten. Aus Sicht von DGAI und BDA ist es dabei entscheidend, Fachgesellschaften und klinisch erfahrene Experten einzubeziehen. Nur so könnten praxisgerechte und medizinisch tragfähige Standards entwickelt werden.

DIVI-Präsident Prof. Florian Hoffmann unterstreicht mit Blick auf den drohenden Flickenteppich: „Patientenversorgung und Rechtssicherheit dürfen auf gar keinen Fall vom Wohnort abhängen.“ Auch die DIVI stünde zur Verfügung, um in einer konstruktiven und raschen Zusammenarbeit einheitliche Standards zu schaffen.

„Ziel bleibt und muss immer sein, eine praxistaugliche, verfassungskonforme und an medizinischen Realitäten orientierte Grundlage zu schaffen, die Gerechtigkeit, Transparenz und Rechtssicherheit bundesweit gewährleistet“, fasst es DIVI-Generalsekretär Prof. Uwe Janssens zusammen.

(ah/BIERMANN)