Cannabis in der Medizin: BfArM-Abschlussbericht bringt wenig Neues7. Juli 2022 Bild: ©adragan – stock.adobe.com Seit nunmehr fünf Jahren können Cannabisarzneimittel bei bestimmten Indikationen auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen ärztlich verordnet werden. Eine Begleiterhebung durch das BfArM sollte Hinweise zu möglichen Anwendungsgebieten und Nebenwirkungen der Therapie liefern. Nun liegt der Abschlussbericht vor – seine Aussagekraft ist jedoch begrenzt. Das Bundesinstituts für Arzneimittel- und Medizinprodukte (BfArM) stellte den Abschlussbericht zu der vom Gesetzgeber in Auftrag gegebenen Begleiterhebung am Mittwoch in Bonn vor. Gegenstand der Untersuchung waren Daten zur Therapie mit Cannabisblüten und -extrakten sowie mit Dronabinol, Nabilon und Sativex®, zum Beispiel die jeweilige Erkrankung des Patienten, die Dosierung, Wirkung und die Nebenwirkungen. Das BfArM betont, dass es sich bei dem Bericht um eine nicht-interventionelle Datenerhebung handelt und keineswegs um eine klinische Studie, Wirksamkeit und Sicherheit der Cannabisarzneimittel könnten somit nicht beurteilt werden. Die Begleiterhebung diene vielmehr als Basis für die Planung klinischer Studien sowie als Entscheidungsgrundlage für den Gemeinsamen Bundesausschuss für eine mögliche Kostenübernahme weiterer Therapieansätze mit Cannabinoiden. Die internationale Studienlage zur Wirksamkeit von Cannabis in der Medizin, insbesondere bei stark Tetrahydrocannabinol(THC)-haltigen Präparaten, ist derzeit noch moderat, für viele therapeutische Ansätze fehlen umfassende Untersuchungen. Geringe Teilnahme Die Erhebung durch das BfArM umfasst Daten zu rund 21.000 Fällen im Zeitraum April 2017 bis März 2022, wovon knapp 17.000 vollständig waren und in die Auswertung einflossen. Angesichts dessen, dass verordnende Ärztinnen und Ärzte zur Teilnahme verpflichtet waren, hält das BfArM die Zahl der gemeldeten Fälle für „gering“. Als Grund wird die weitgehende Anonymisierung von Ärztinnen und Ärzten genannt, wodurch die Datenübermittlung „faktisch freiwillig“ erfolgt sei, heißt es im Bericht. Chronische Schmerzen als Hauptindikation Bezogen auf alle Cannabisarzneimittel sind die behandelten Personen laut Bericht im Durchschnitt 57 Jahre alt und in der Mehrzahl weiblich. Ein Großteil der ausgewerteten Behandlungen erfolgte aufgrund chronischer Schmerzen (mehr als 75%). Weitere häufig behandelte Symptome waren Spastik (9,6%) und Anorexie/Wasting (5,1%). In 14,5 Prozent der Fälle lag eine Tumorerkrankung vor, in 5,9 Prozent Multiple Sklerose. In nahezu 75 Prozent der Fälle wurde durch die Anwendung von Cannabisarzneimitteln eine Besserung der Symptomatik erreicht, heißt es in dem Bericht. In 70 Prozent der Fälle wurde eine Besserung der Lebensqualität berichtet. Nebenwirkungen und Therapieabbrüche häufig In den meisten Fällen (62,2%) verordneten die Ärztinnen und Ärzte den Wirkstoff Dronabinol, zum Beispiel als in der Apotheke hergestellte Rezeptur oder als Fertigarznei, gefolgt von Cannabisblüten (16,5%) und -extrakten (13%). Häufig waren typische Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel, Schläfrigkeit und Übelkeit bei der Verwendung aller Cannabismittel. Eher selten kam es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Depression (1,2%), Halluzinationen (0,7%) und Sinnestäuschungen (0,6%). In einem Drittel der Fälle wurde die Therapie vor Ablauf eines Jahres abgebrochen, hauptsächlich aufgrund fehlender Wirkung (38,5%). Bei 25,9 Prozent waren Nebenwirkungen der Abbruchgrund, bei 20,2 Prozent das Versterben der Patientin bzw. des Patienten. Bias der meldenden Ärzte Dem Bericht zufolge wurden Cannabisarzneimittel vornehmlich von Fachärzten der Anästhesiologie (52,5%) und weniger von den niedergelassenen Hausärzten (knapp 25%) verschrieben. Das BfArM betont jedoch, dass sich diese Daten nicht mit Auswertungen der Krankenkassen decken, nach denen vor allem die Hausärzte Cannabisarzneien verschreiben. Dies lasse vermuten, dass Anästhesisten womöglich konsequenter an der eigentlich verpflichtenden Begleiterhebung teilgenommen hätten als die niedergelassenen Ärzte, wodurch es im Bereich der Allgemeinmedizin zu einer Untererfassung gekommen sei. Cannabisblüten vor allem für jüngere Männer Dieser Umstand sei vor allem mit Blick auf die Verschreibung von Cannabisblüten zu beachten, betont das BfArM. Denn die Blüten werden hauptsächlich von Hausärzten besonders jüngeren Männern (Durchschnittsalter 45,5 Jahre) verschrieben und weisen im Vergleich zu Dronabinol eine 16-fach höhere mittlere THC-Tagesdosis auf, dem Hauptwirkstoff der Cannabispflanze. Zwar bewerteten mit Cannabisblüten behandelte Patientinnen und Patienten den Therapieerfolg grundsätzlich höher, brachen die Therapie seltener ab und gaben seltener Nebenwirkungen an. Sie berichteten aber auch dreimal häufiger von einer euphorisierenden Wirkung. Es stelle sich daher die Frage, schreibt das BfArM, inwiefern eine „andere Art der Wirkung“ eintritt, als es bei den anderen Cannabisarzneimitteln der Fall ist. Die Ergebnisse zu Cannabisblüten betrachte man mit Sorge. „Die Gefahr von Missbrauch und Abhängigkeit bei der Therapieplanung mit Cannabisblüten“ müsse von Ärztinnen und Ärzten beachtet werden, heißt es im Bericht. Kritik am Bericht Prof. Frank Petzke, Leiter Schmerzmedizin and der Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin Göttingen, sieht zwei Kernprobleme an dem Bericht: Aufgrund der kleinen, unvollständigen Stichprobe der tatsächlichen Verordnungen entspreche er nicht der gesamten Verordnungsrealität. „Wir haben hier womöglich zudem eine Positivauswahl motivierter und qualifizierter Ärzte, die auch dokumentieren, was zu besseren Ergebnissen beitragen könnte“, erklärt Petzke. Auch beruhe der Bericht nur auf Einschätzungen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, was ein schwer zu definierender Bias sei. Für die Schmerztherapie sieht er in dem Bericht aber „einige wichtige allgemeine Botschaften“. „Schmerz ist die wichtigste Indikation, dahinter verbirgt sich aber eine Vielzahl von Diagnosen, mit letztlich zum Teil kleinen Fallzahlen, wie zum Beispiel für das Fibromyalgiesyndrom. Daraus lassen sich kaum weitere Schlüsse für die Klinik ableiten, da wir wenig Spezifisches über diese Patienten erfahren, insbesondere auch nicht, warum ihre Erkrankung schwerwiegend war“, erläutert Petzke. Er macht darauf aufmerksam, dass die Kassen wahrscheinlich am häufigsten Schmerz als Indikation akzeptieren, was dazu verleite, den Einsatz von medizinischem Cannabis auch vornehmlich im Bereich Schmerz zu begründen. Antragssteller könnten daher jetzt oder in Zukunft vielleicht eher dazu neigen, einen Antrag im Bereich Schmerz zu stellen. „Hier braucht es bessere übergeordnete Abstimmungen und gemeinsame Behandlungskonzepte“, so Petzke. Ähnliche Bedenken äußert Prof. Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie sowie Leiterin der Arbeitsgruppe „Tourette“ an der Medizinischen Hochschule Hannover. Um Fehlbewertungen zu vermeiden müsse berücksichtigt werden, „dass in der Begleiterhebung nur die Daten erfasst werden, für die zuvor von den Krankenkassen eine Kostenübernahmezusage erteilt wurde.“ Jedoch würden drei Viertel aller Anträge, die bewilligt werden, auf den Bereich Schmerz entfallen. „Kostenübernahmeanträge etwa bei psychiatrischen Indikationen werden hingegen sehr häufig abgelehnt – mit der Begründung, die Leiden seien nicht schwerwiegend genug, es stünden andere Therapien zur Verfügung oder es fehle an Evidenz für die Behandlung. Dies ist der Grund, warum psychiatrische Erkrankungen – aber auch viele andere Störungen – in dem Bericht nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen.“ Zwar sei die Datenlage für die Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente bei psychiatrischen Erkrankungen bis heute gering. Dennoch hält Müller-Vahl es für bedauerlich, „dass die Krankenkassen durch eine Ablehnung der Kostenübernahmen neue, innovative Therapien verhindern“. Dr. Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht und Honorar-Professor an der Juristischen Fakultät, Georg-August-Universität Göttingen, kritisiert, dass in dem Bericht suggeriert werde, „Kiffer“ würden sich ein Rezept für Cannabisblüten abholen. „Das halte ich in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle für unzutreffend.“ Es gebe gute Gründe auf Blüten zu setzen und nicht auf synthetisierte Cannabisprodukte, die auch ihren Sinn hätten. „Blüten wirken anders und in etlichen Fällen auch besser“, sagt Tolmein. Dass es unter Cannabisblüten offenbar seltener zu Nebenwirkungen kommt, darauf verweist auch Müller-Vahl. Gleichzeitig bemängelt die Psychiaterin, dass dies vom BfArM mit dem jüngeren Alter der Patientinnen und Patienten erklärt werde, „statt zu diskutieren, dass Blüten eventuell tatsächlich besser verträglich und besser dosierbar sind.“ Hochwertige klinische Studien nötig „Uns fehlen weitere klinische Studien zur Wirksamkeit von Cannabisarzneien. Die Pharmaindustrie ist hier bei der Finanzierung aber sehr zurückhaltend. Daher muss eine Förderung durch den Bund erfolgen. Nur so können wir Daten gewinnen, die uns verlässliche Aussagen über die Wirksamkeit von Cannabisarzneien liefern“, so das Fazit von Müller-Vahl. „Es ist an der Zeit, dass die medizinische Zulassung und Erstattung durch die Solidargemeinschaft von Cannabinoiden auf der Basis hochwertiger Studien erfolgt – wie bei allen anderen Medikamenten – und das derzeitige Prozedere eine Übergangslösung bleibt“, fordert apl. Prof. Winfried Meißner, Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, Chefarzt der Abteilung Palliativmedizin und Leiter der Sektion Schmerztherapie der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Jena. Meißner weiter: „Für die zukünftige Entwicklung sollten die Kriterien, nach denen eine Erkrankung für eine Cannabisbehandlung in Frage kommt, besser charakterisiert werden.“ Aus Sicht der Deutschen Schmerzgesellschaft lauten die wichtigsten Schlussfolgerungen aus der Datenerhebung: „Behandelnde Ärzte und Ärztinnen beschreiben bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen und Schmerzen oft einen positiven Effekt von Cannabismedikamenten. Bei ausgewählten Patienten mit chronischen Schmerzen und besonders in der Palliativmedizin sollten sie von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten bürokratielos verschrieben werden können.“ (ah)
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