Casting-Show für Gehirnzellen

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Seit Jahrzehnten fragen sich Neurowissenschaftler, wie das Gehirn immer wieder neue Aufgaben erlernen kann, ohne im Laufe des Lebens ständig wachsen zu müssen. Wissenschaftler aus Deutschland und Schweden stellen nun die Theorie vor, dass die Anzahl der Hirnzellen beim Lernen anfänglich zunimmt, viele später aber wieder verworfen oder anderen Rollen zugeordnet werden. 

„Das Volumen des Gehirns nimmt in den ersten Phasen des Lernens zu und normalisiert sich dann teilweise oder sogar vollständig“, sagte Elisabeth Wenger, Neurowissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. „Es scheint effizient zu sein, erst die Möglichkeiten auszukundschaften, verschiedene Strukturen und Zelltypen auszuprobieren, die besten auszuwählen und dann die loszuwerden, die nicht mehr benötigt werden.”

Sie beschreibt Hirnzellen metaphorisch als Schauspieler, die sich an einem Casting für einen Film beteiligen, dessen Regisseur das Gehirn ist: Das Gehirn lädt verschiedene Kandidaten ein, indem es neue Zellen produziert, was sein makroskopisch erkennbares Volumenwachstum verursacht. Das Gehirn probiert dann verschiedene Funktionen aus – um zu erkennen, welche Zellen die Information am besten speichern oder weitergeben können; diese werden dann behalten. Die anderen Kandidaten werden dann abgewiesen oder es werden ihnen andere Rollen gegeben.

Als Hinweis auf einen solchen Mechanismus führen die Wissenschaftler eine Studie an, bei der Rechtshänder lernten, mit ihrer linken Hand zu schreiben und zu zeichnen. Nach einem Monat war ihr Gehirnvolumen angestiegen, drei Wochen später hatte es aber fast wieder seinen Normalwert. Forscher machten ähnliche Beobachtungen in anderen Studien, bei denen zum Beispiel Affen lernten, einen Rechen zu nutzen, um an Nahrung zu kommen, oder Ratten lernten, Töne zu unterscheiden.

Wenger und ihre Koautoren Claudio Brozzoli, Ulman Lindenberger und Martin Lövdén waren überrascht, wie oft das Phänomen der Hirnexpansion und -renormalisierung bereits in Tierstudien festgestellt wurde und gehen davon aus, dass es auch auf menschliche Gehirne zutrifft. „Wir sind definitiv nicht die ersten, die das Expansions- und Renormalisierungsmodell vorschlagen oder gar entdecken“, sagt Wenger. „Aber wir sind diejenigen, die das Modell jetzt erstmalig in Zusammenhang mit Volumenveränderungen der grauen Hirnsubstanz beim Menschen bringen.“

Die Wissenschaftler finden, dass diese Theorie die Art und Weise beeinflussen sollte, wie Forscher Hirnstudien durchführen. „Es ist nun klar geworden, dass gerade das bisher typische Studiendesign mit zwei Messzeitpunkten ungeeignet ist, den vollen Umfang der stattfindenden Veränderungen zu erfassen“, stellte Wenger fest. „Diese Theorie erfordert die Anwendung von Studiendesigns mit einer höheren Anzahl von Messzeitpunkten, um Veränderungen des Hirnvolumens vollständig darstellen zu können.“

Literatur:
Wenger E et al.: Cognitive Sciences 2017;21(12):930-939.