Charité-Studie hat 400 Millionen Jahre Enzym-Evolution entschlüsselt18. Juli 2025 Dreidimensionale Gestalt des Hefepilz-Enzyms Erg11, generiert mit AlphaFold2. Erg11 wird von Azolen gehemmt, einer bestimmten Klasse von Anti-Pilz-Medikamenten. Verändert sich Erg11, kann der Pilz eine Toleranz gegen die Arzneimittel entwickeln. (Bild: © Charité | Markus Ralser) Forschenden der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist es nun mithilfe der künstlichen Intelligenz AlphaFold2 gelungen, Gesetzmäßigkeiten der Evolution von Enzymen in großem Stil zu analysieren. Im Fachmagazin „Nature“ beschreiben die Wissenschaftler, welche Enzymbereiche sich vergleichsweise schnell wandeln und welche über die Zeit praktisch unverändert bleiben. Die Erkenntnisse sind beispielsweise für die Entwicklung neuer Antibiotika relevant. „Wir wollten verstehen, nach welchen Regeln sich Enzyme über die Zeit in ihrer räumlichen Gestalt verändern“, erklärt Studienleiter Prof. Markus Ralser, Direktor des Instituts für Biochemie der Charité. „Denn wenn wir diese Regeln kennen, können wir beispielsweise voraussagen, wo und wie ein Bakterium gegen ein Antibiotikum resistent werden wird.“ Viele Antibiotika und Anti-Pilz-Medikamente richten sich gegen spezifische Enzyme der Erreger. Verändern diese ihre Form genau dort, wo der jeweilige Wirkstoff andockt, verliert das Medikament seine Wirkung. Dasselbe Prinzip gilt für zahlreiche andere Arzneimittel. Viele Krebsmedikamente richten sich gegen Enzyme im Tumor, die unter der Behandlung ihre Gestalt verändern können und das Medikament so wirkungslos werden lassen. Erst KI-System ermöglicht Beantwortung der Forschungsfrage Die Prinzipien der Enzym-Evolution zu bestimmen, ist allerdings leichter gesagt als getan. Nötig ist ein Vergleich der dreidimensionalen Form unzähliger Enzyme. Diese Informationen waren aber für viele Enzyme nicht bekannt, denn die 3D-Struktur nur eines einzelnen Enzyms experimentell zu ermitteln, ist aufwendig und dauert mitunter mehrere Monate. „Wir haben die Gestalt von fast 10.000 Enzymen stattdessen in wenigen Monaten mit AlphaFold2 berechnet“, sagt Ralser. AlphaFold2 ist ein KI-Modell, das allein auf Basis der Aminosäuresequenz, also der chemischen Zusammensetzung eines Enzyms, ableitet, wie seine 3D-Struktur aussehen müsste – und eine sehr hohe Treffsicherheit bewiesen hat. AlphaFold2 wurde schon 2020 weltweit als Durchbruch gefeiert. Nur vier Jahre später, im vergangenen Jahr, erhielten die Entwickler des KI-Modells den Nobelpreis für Chemie. Mit Supercomputing der Evolution auf der Spur Um AlphaFold2 zu betreiben, braucht es Rechenpower – und zwar sehr viel davon. „Wir haben für unsere Berechnungen den Supercomputer Berzelius in Schweden genutzt“, sagt Dr. Oliver Lemke, Wissenschaftler im Labor von Markus Ralser und einer der beiden Erstautoren der Arbeit. Der 300-Petaflops-Rechner wird vom National Supercomputer Centre der Linköping Universität betrieben und steht internationalen Forschungsteams auf Antrag zur Verfügung. An der Charité analysierten die Forschenden schließlich die Ähnlichkeiten und Unterschiede von insgesamt knapp 11.300 Enzymen und betrachteten sie im Kontext der Stoffwechselreaktionen, die diese verantworten. Zusätzlich zu den rund 10.000 3D-Strukturen, die sie selbst berechnet hatten, berücksichtigten sie etwa 1300 3D-Strukturen, die zuvor schon mit AlphaFold2 vorhergesagt und veröffentlicht worden waren. Das Team konzentrierte sich in seiner Arbeit auf Enzyme aus Hefen, also einzelligen Pilzen, zu denen beispielsweise die Bäckerhefe gehört. Dr. Benjamin Heineike, der zweite Erstautor der Studie aus dem Ralser-Labor, erklärt: „Hefepilze gehören zu den am besten untersuchten Organismen. Ob bezüglich Enzym-Genen oder Stoffwechsel, zu ihnen lagen uns die umfassendsten Daten vor.“ Die untersuchten Enzyme stammten aus 27 verschiedenen Hefe-Arten, die sich über einen Evolutionszeitraum von 400 Millionen Jahren entwickelt haben. Die Chemie bestimmt den Enzymwandel Das Forschungsteam entdeckte gleich mehrere Gesetzmäßigkeiten, nach denen Enzyme evolvieren. Beispielsweise verändern sie sich schneller auf ihrer Oberfläche als darunter. Dagegen wandelt sich ihr sogenanntes aktives Zentrum – also der Ort, an dem die chemische Reaktion stattfindet – auch über lange Zeit kaum. Wenn das Enzym auf seiner Oberfläche andere Moleküle binden muss, um seine Funktion zu erfüllen, sind auch jene Bereiche in ihrer Form eingefroren. „Zusammenfassend können wir sagen, dass sich Enzyme vorrangig an den Stellen weiterentwickeln, die keinen Einfluss auf die chemischen Reaktionen haben“, erklärt Ralser. „Der Stoffwechsel selbst bedingt also maßgeblich die Evolution der Enzymstruktur.“ Die Studienergebnisse sind beispielsweise für die Optimierung biotechnologischer Verfahren relevant, aber auch für die Entwicklung neuer Wirkstoffe. Um auf das Beispiel Antibiotika zurückzukommen: „Wenn ein neues Antibiotikum auf den Markt kommt, dauert es manchmal nur eine kurze Zeit, bis die ersten Resistenzen auftreten“, sagt Ralser. „Das liegt daran, dass sich die bakteriellen Enzyme, gegen die die Wirkstoffe gerichtet sind, in hohem Tempo weiterentwickeln. Mit unseren Daten lassen sich die Bereiche der Enzyme identifizieren, die sich voraussichtlich kaum verändern werden. Neue Antibiotika, die genau dort angreifen, könnten potenziell über einen längeren Zeitraum ihre Wirkung behalten.“
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