COVID-19: Forschende erwarten für den Herbst ähnliches Pandemiegeschehen wie in den ersten beiden Wellen

Gabriele Doblhammer untersuchte gemeinsam mit Constantin Reinke und dem Daniel Kreft, warum die ersten beiden COVID-19-Wellen sich regional so unterschiedlich in Deutschland ausgebreitet haben. (Foto: © Thomas Rahr/Universität Rostock)

In zwei Studien haben Rostocker Forschende untersucht, warum die ersten beiden COVID-19-Wellen sich regional so unterschiedlich in Deutschland ausgebreitet haben. Denn: Über die sozioökonomische Verbreitung, insbesondere der ersten Welle von COVID-19-Infektionen in Deutschland, ist wenig bekannt.

„Auch wenn die ersten beiden Corona-Wellen schon lange vergangen sind, kann man viel daraus lernen. Nämlich: welche Einflussfaktoren mit niedrigen beziehungsweise hohen Infektionsraten zusammenhängen und was uns eventuell im kommenden Herbst wieder erwarten wird“, sagt Prof. Gabriele Doblhammer, die den Lehrstuhl für Soziologie und Demographie an der Universität Rostock leitet.

„Wir haben die Landkreise unter die Lupe genommen und wollten wissen, ob sich das Risiko für COVID-19-Infektionen zwischen den Regionen in Abhängigkeit von zum Beispiel ihren sozioökonomischen Merkmalen, also beispielsweise Bildung, Einkommen, Gesundheit, Mobilität, Alter und Geschlecht unterscheidet“, sagt Constantin Reinke, der an der Universität Hamburg Sozialökonomie und an der Universität Rostock Volkswirtschaftslehre studierte und jetzt, ebenfalls in Rostock, promoviert.

Die Rostocker Forschenden haben einen „etablierten Algorithmus aus dem Bereich des so genannten maschinellen Lernens auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen übertragen, deren Ergebnisse und Anwendungsmöglichkeit künftig auch zur Vorhersage der COVID-Ausbreitung dienen kann“, sagt der ebenfalls an den Untersuchungen beteiligte Dr. Daniel Kreft. Und der funktioniert so, „dass Zusammenhänge zwischen bestimmten Merkmalen eines Kreises wie der Bevölkerungsdichte oder der Arbeitslosenquote und der COVID-Inzidenz ermittelt werden können, ohne dass vorab eine bewusste Auswahl von Merkmalen getroffen werden muss“. Kreft ergänzt: „Frühere Studien haben immer nur wenige ausgewählte Merkmale untersucht, wir berücksichtigen eine große Menge und identifizieren über unseren Algorithmus die wichtigsten, die das Infektionsgeschehen abbilden. Voraussetzung dafür ist, dass die Merkmale über die Kreise hin vergleichbar sind und nach etablierten wissenschaftlichen Methoden erhoben wurden.“

Mit Daten des Robert Koch-Institutes zu COVID-19-Diagnosen unterschieden die Rostocker Wissenschaftler fünf Zeiträume zwischen dem 1. April und 23. Juli 2020 (für die 2. Welle entsprechend 1. Oktober und 15. Dezember 2020) und charakterisierten die Regionen anhand von über 160 Eigenschaften, unter anderem der geografischen Lage des Kreises, der Einwohnerdichte, des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung, der Arbeitslosenquote, der Quote von Pflegebedürftigen oder des Anteils der Bevölkerung mit einem bestimmten Bildungsabschluss.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die erste COVID-19-Welle als Krankheit in wohlhabenderen ländlichen Kreisen in Süddeutschland begann und erst im Verlauf der ersten Welle in ärmere städtische und ländliche Kreise vordrang“, berichtet Reinke. Der negative soziale Gradient, dass zum Beispiel in Kreisen mit höherer Arbeitslosigkeit mehr Menschen von COVID-19 betroffen waren, entstand ab dem ersten Lockdown, wo wohlhabendere Landkreise besser geschützt zu sein schienen. Welche Ursachen spielten dabei die entscheidende Rolle? Wirtschaftliche und bildungsbezogene Merkmale der jungen Bevölkerung waren es beispielsweise und das gerade zu Beginn der Pandemie.

Während der zweiten Welle habe sich das Bild verschoben, erklären die Forschenden. „Was man sehen konnte, war, dass so etwas wie der ‘Ischgl-Effekt’, also die regionale Nähe zu Hotspot Gebieten, die zu Beginn der ersten Welle mit hohen Inzidenzen verknüpft war, nicht mehr zu sehen war“, sagt Reinke. „Aber auch in der zweiten Welle kam es zu einer vergleichbaren Änderung des sozialen Gradienten, sodass im Laufe der zweiten Welle immer stärker sozial schwache Kreise ein hohes Infektionsgeschehen aufwiesen.“

Die Daten, die die Rostocker Forscher zur Grundlage nahmen, stammten aus großen Datensammlungen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung, der Pflegestatistik, der Zensusdatenbank, der Datenbank des Bundesumweltamtes und der Pendlerstatistik des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Was man aus dieser Studie lernen kann, formuliert Doblhammer so: „Die räumliche Ausbreitung der COVID-19-Pandemie ist nicht zufällig, sondern wird durch die sozialen Merkmale der Bevölkerung bestimmt. Soziale Schichten mit hoher Mobilität zum Beispiel im Urlaub bestimmen am Anfang von Pandemiewellen das Geschehen. Diese Schichten können sich in den Lockdowns beispielweise durch Homeoffice besser schützen. Damit verlagert sich die Pandemie zunehmend in die sogenannten systemrelevanten Bevölkerungsgruppen und die Gruppe der besonders vulnerablen älteren Menschen in Pflegeheimen. Bei den aktuellen Lockerungen der COVID-19-Maßnahmen sowie möglichen steigenden Fallzahlen im Herbst erwarten wir ein ähnliches Pandemiegeschehen.“