COVID-19-Pandemie in Europa: Verlust von Lebensjahren ohne Beeinträchtigung quantifiziert

Abbildung, generiert mit KI: © Анатолий Сав/stock.adobe.com

Britische Forscher haben für 18 europäische Länder errechnet, wie sich die COVID-19-Pandemie im Hinblick auf den Verlust von Lebensjahren ausgewirkt hat. Insgesamt seien dort 16,8 Millionen Lebensjahre verloren gegangen, davon in Deutschland mehr als zwei Millionen.

Das in der Studie verwendete Maß PYLL (person years of life loss) bezeichnet die Differenz zwischen Lebenserwartung und vorzeitigem Tod, also wie viele potenzielle Lebensjahre durch den frühzeitigen Tod verloren gehen. Während der Pandemie gab es sowohl direkt durch COVID-19 ausgelöste PYLL, aber auch indirekte: Mögliche Beispiele wären potenzielle Todesfälle aufgrund von verzögerten Gesundheitsdienstleistungen und negative Effekte von Pandemie-Maßnahmen auf die Gesundheit. Auf der anderen Seite verhinderten die Pandemie-Maßnahmen Todesfälle, beispielsweise gab es deutlich weniger Grippefälle.

Hypothetisches Szenario ohne Pandemie

Die Forschenden analysierten, in welchem Maß die Pandemie direkte und indirekte zusätzliche PYLL ausgelöst hat. Dazu werteten sie Daten verschiedener nationaler Institute, der Weltgesundheitsorganisation WHO und Sterblichkeits- und Krankheitsraten aus 18 europäischen Ländern aus. Mit einer statistischen Modellanalyse wurden für den Zeitraum von 2020 bis 2022 die verlorenen Lebensjahre bestimmt: Das Modell nutzte für die Berechnung ein hypothetisches Szenario, in dem nie eine Pandemie stattgefunden hätte. Aus dem Vergleich dieser Ergebnisse mit dem Modell mit realen Pandemiedaten ergab sich die Einschätzung zu den durch die Pandemie verursachten PYLL. Außerdem konnten sie die PYLL durch direkte SARS-CoV-2-Infektionen von indirekten verlorenen Lebensjahren trennen. Letztere sind in der Analyse beliebige andere Todesursachen, die PYLL zusätzlich zum Nicht-Pandemie-Szenario verursacht haben. Außerdem kann die Berechnung zwischen PYLL, die ohne oder mit Beeinträchtigung gelebt worden wären, unterscheiden.

Verlust von Lebensjahren mit und ohne Beeinträchtigung pro 1000 Einwohner im Alter zwischen 35 und 100 Jahren im Zeitraum 2020–2022. Die Fehlerbalken stellen die 95%-Unsicherheitsintervalle dar, die in der Monte-Carlo-Simulation ermittelt wurden. (Quelle: © Ahmadi-Abhari S et al., 2025, PLOS Medicine; CC-BY 4.0)

Von den verlorenen 16,8 Millionen Lebensjahren seien 3,6 bis 5,3 Millionen auf indirekte Pandemie-Folgen zurückzuführen, der Start der Impfungen habe zu einem geringeren Anteil an direkten COVID-19-PYLL geführt, errechneten die Wissenschaftler. 60 Prozent der verlorenen Lebensjahre wären solche ohne Beeinträchtigung gewesen. Im Ländervergleich schnitten Länder mit höherer Impfquote und höherem Bruttoinlandsprodukt besser ab. Die Strenge der Pandemie-Maßnahmen floss als Faktor jedoch nicht mit ein: Am wenigsten Lebensjahre pro 1000 Einwohner verloren Schweden, Dänemark und die Schweiz, am meisten Estland, Polen und Spanien. Deutschland und Österreich lagen im Mittelfeld.

„Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Pandemie die sozioökonomischen Ungleichheiten bei der vorzeitigen Sterblichkeit zwischen den Ländern verschärft und die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Lebenserwartung vergrößert hat“, schreiben die Autoren der Studie. „Der erhebliche Anteil verlorener Lebensjahre ohne Beeinträchtigung verdeutlicht eine instinktive Unterschätzung der Auswirkungen der Pandemie, insbesondere auf die ältere Bevölkerung.“

Dr. Sara Ahmadi-Abhari, Hauptautorin der Studie, fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse verdeutlichen die langfristigen Auswirkungen der Pandemie, die über die COVID-19-Todesfälle hinausgehen. Während Impfungen eine wichtige Rolle bei der Begrenzung der direkten COVID-19-Verluste spielten, verdeutlicht der stetig steigende Verlust anderer Todesopfer die weitreichenderen Folgen der Pandemie, die möglicherweise auf Störungen im Gesundheitswesen zurückzuführen sind. Der erhebliche Verlust an Lebensjahren, insbesondere angesichts der Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Menschen ohne Beeinträchtigung gelebt hätten, unterstreicht die dringende Notwendigkeit eines umfassenden Pandemievorsorgeprogramms, das sowohl unmittelbare als auch langfristige Vorteile für die öffentliche Gesundheit bieten kann.“

Informationen für die Vorbereitung auf zukünftige Pandemien

„Diese Studie liefert weitere Mosaiksteine für unser Verständnis der Pandemie“, kommentiert Prof. Ralf Reintjes, Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. „Eine umfassende Aufarbeitung und Umsetzung der sich zeigenden Ergebnisse für eine Vorbereitung auf zukünftige Pandemien ist essenziell, um beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein und die Auswirkungen anstehender Pandemien auf unser aller Gesundheit so gering wie möglich zu halten.“ Zur weiteren Zunahme indirekter PYLLs nach der Einführung von Impfungen erklärt er: „Es darf nicht vergessen werden, dass die höchste Anzahl gemeldeter COVID-19-Fälle im Jahr 2022, nach Reduktion beziehungsweise Beendigung vieler Schutzmaßnahmen, berichtet wurde. Jedoch werden auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die Überlastung der Gesundheitssysteme, eine Rolle gespielt haben.“

Für Dr. Berit Lange, Kommissarische Leiterin der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, ist aus der Studie noch nicht ersichtlich, wie die nicht-COVID-19-assoziierten PYLL erklärt sind. „Hierzu hätten tatsächlich todesursachenspezifische Daten – die durchaus vorhanden, aber natürlich für 18 Länder schwer zusammenzutragen sind – aus den entsprechenden Ländern genauer analysiert werden müssen. Damit hätten beispielsweise auch kardiovaskuläre Mortalität in Folge von SARS-CoV-2-Infektionen besser identifiziert werden können. Natürlich können grundsätzlich Pandemiemaßnahmen sowohl für die zeitweilige Untersterblichkeit in bestimmten Altersgruppen und zu bestimmten Zeitperioden als auch für die Übersterblichkeit durch nicht wahrgenommene Vorsorge oder Versorgung verantwortlich sein.“ Grundsätzlich aber hält die Wissenschaftlerin die Methodik der Studie für geeignet.

Realistischere Annahmen als in vergleichbaren Modellen

Zur Methodologie, mit der die Studienautoren verlorene Lebensjahre quantifiziert haben, meint Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Population Health Lab des Max-Planck-Institutes für demografische Forschung in Rostock: „Die gewählte Methode ist komplexer und basiert auf realistischeren Annahmen als vergleichbare Modelle der WHO oder der ‚Global Burden of Disease Study‘ und führt daher zu anderen Schätzungen.“

Der Forscher sieht allerdings auch einen Nachteil der gewählten Methode: den erhöhten Datenbedarf. Deshalb seien in der vorliegenden Studie nur europäische Länder mit vergleichbar guter Datenlage vertreten. „Eine Limitation der Studie ist, dass die COVID-19-Todesfälle von Menschen mit Begleiterkrankungen und Behinderungen geschätzt, und nicht beobachtet wurden. Ich erwarte, dass sich die vorliegenden Schätzungen noch einmal verändern werden, wenn genauere Todesfallzahlen vorliegen.“

Wie viel ist viel?

„Ein Problem bei der Berechnung der Zahl der durch COVID-19 verlorenen Jahre ist der Mangel an Vergleichsmöglichkeiten“, sagt Prof. Valentin Rousson von der Abteilung für Biostatistik am Zentrum für Primärversorgung und Public Health der Universität Lausanne (Schweiz). „Was bedeuten 16 Millionen verlorene Lebensjahre in drei Jahren und 18 Ländern? Wie viel ist viel?“.

Der Schweizer Forscher hat selbst gemeinsam mit seiner Kollegin Isabella Locatelli bereits zu diesem Thema veröffentlicht und unter anderem die Anzahl der direkt oder indirekt durch COVID-19 verlorenen Jahre im Jahr 2020 in 30 Ländern – einschließlich 21 europäischen – errechnet. „Bulgarien war das am stärksten betroffene Land“, berichtet er. „Männer verloren 106.900 Jahre und Frauen 78.900 Jahre durch COVID-19. Teilt man jedoch diese Anzahl von Jahren durch die Bevölkerungszahl, so entspricht dies 11,8 beziehungsweise 8,2 Tagen pro Person, was weniger beeindruckend erscheinen mag.“ Rousson räumt ein: „Wir haben die Mortalitätsdaten für 2021 nicht analysiert, aber ich weiß, dass die Situation in einigen Ländern schlechter war als 2020, in anderen besser. Ich nehme also an, dass wir im Durchschnitt ein weiteres Jahr von 1000 verloren haben. Im Jahr 2022 war die Lage weniger dramatisch, sodass wir nach einer groben Schätzung im Zeitraum 2020 bis 2022 etwa zwei von 1000 Jahren verloren haben, zumindest in einigen Ländern wie Bulgarien.“

Roussons Fazit: „Wir können es den Menschen überlassen, zu beurteilen, ob ein solcher Verlust erheblich ist oder nicht. Wenn es nicht so dramatisch erscheint, wäre es eine gute Nachricht nach all den strengen Maßnahmen, die gegen COVID-19 ergriffen wurden. Niemand weiß, wie hoch die Verluste gewesen wären, wenn diese Maßnahmen nicht ergriffen worden wären.“