Das Bewusstsein neu denken

Digitale Illustration von Ana Perez Hernández (im Auftrag von Lucia Melloni).

Was ist Bewusstsein? Seit Jahrhunderten versuchen Wissenschaftler und Philosophen zu verstehen, wie das Gehirn unsere innere Welt erschafft. Nun hat ein internationales Forschungskonsortium zwei der derzeit prominentesten Bewusstseinstheorien auf den Prüfstand gestellt. Seine Ergebnisse stellen Kernannahmen beider Modelle in Frage.

Durchgeführt wurde die Studie vom Cogitate-Konsortium (Collaboration On GNWT and IIT: Testing Alternative Theories of Experience), das sich zum Ziel gesetzt hat, die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT) und die Integrated Information Theory (IIT) umfassend miteinander zu vergleichen. Beide Modelle versuchen zu erklären, wie aus neuronaler Aktivität bewusste Erfahrungen entstehen, kommen aber zu völlig unterschiedlichen Antworten: Die GNWT geht davon aus, dass Bewusstsein durch großflächige Übertragungen von Informationen im Gehirn entsteht. Der Schwerpunkt liegt dieser Theorie zufolge in den präfrontalen und parietalen Regionen. Die IIT hingegen verortet das Bewusstsein im posterioren Kortex, wo Informationen zu zusammenhängenden Erfahrungen verbunden werden.

Anstatt isoliert zu arbeiten, schlossen sich führende Theoretiker nun mit einem internationalen Forschungsteam zusammen. Sie konzipierten eine Studie, die einen objektiven, widerlegbaren Test ihrer Vorhersagen liefern sollte. Diese kontroverse Zusammenarbeit – ein Ansatz, der erstmals vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman vertreten wurde – ist eine radikale Abkehr vom Status quo in den Neurowissenschaften, in denen Bestätigungsfehler und methodologisches Silodenken lange Zeit den Fortschritt behindert haben.

Alle Hypothesen, Analysen und Interpretationen wurden vorab registriert. Unabhängige Forschungsteams führten die Studie mit insgesamt 256 Teilnehmern in sieben Laboren weltweit durch. Dabei nutzten sie drei sich ergänzende bildgebende Verfahren: funktionelle Kernspintomographie (fMRI), Magnetenzephalographie (MEG) und intrakranielles EEG (iEEG). Alle beteiligten Wissenschaftler hatten sich im Vorfeld darauf geeinigt, die Ergebnisse unabhängig von deren Ausgang zu akzeptieren.

„Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass wir unsere Theorien gemeinsam testen“, erklärt Lucia Melloni, Co-Seniorautorin vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt. „Dabei geht es nicht darum, einen Sieger zu küren, sondern darum, die Messlatte für die Überprüfung wissenschaftlicher Ideen höher zu legen.“

Die Ergebnisse stellen beide Theorien in Frage. Die Kernannahme der IIT, wonach die bewusste Wahrnehmung von einer anhaltenden Synchronisation in den hinteren Hirnregionen abhängt, wurde durch die Daten nicht bestätigt. Im Falle der GNWT traten zwar einige bewusste Informationen im präfrontalen Kortex auf, aber wesentliche Merkmale fehlten. Auch das vorhergesagte „Zündmuster“ zu Beginn der bewussten Erfahrung konnte nicht nachgewiesen werden.

„Die Ergebnisse erinnern uns eindringlich daran, dass selbst unsere etabliertesten Überzeugungen einer strengen Überprüfung bedürfen. Wenn wir das Bewusstsein wirklich verstehen wollen, dürfen wir uns nur von den Daten leiten lassen“, führt Melloni weiter aus.

Aufbauend auf der bisherigen Arbeit ist das Cogitate-Team bereits dabei, ein zweites großangelegtes Experiment zur weiteren Untersuchung der GNWT und IIT fertig zu stellen. Als weiteres Bekenntnis zur Transparenz stellt das Team seinen Datensatz Forschern weltweit kostenlos zur Verfügung.

„Es gibt mehr als zwanzig Theorien über das Bewusstsein. Wir haben zwei davon getestet“, schließt Alex Lepauvre, Co-Autor vom MPIEA. „Jetzt laden wir andere dazu ein, diesen umfangreichen Datensatz zu nutzen und dazu beizutragen, das Forschungsgebiet weiter voranzubringen.“

Der Artikel zu den aktuellen Forschungsergebnissen wurde von 41 Wissenschaftlern gemeinsam verfasst. Eine vollständige Liste der Autorinnen und Autoren und Beiträge findet sich auf der Website des Konsortiums: https://www.arc-cogitate.com

Folgende Autoren waren die Hauptforscher der Studie:

1. Liad Mudrik, Co-Seniorautor, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel
2. Michael Pitts, Co-Seniorautor, Reed College, Portland, Oregon, USA
3. Ole Jensen, University of Oxford, Oxford, England
4. Floris de Lange, Donders Centre for Cognitive Neuroimaging, Nijmegen,
Niederlande
5. Gabriel Kreiman, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, USA
6. Huan Luo, Peking University, Beijing, China
7. Hal Blumenfeld, Yale University, New Haven, Connecticut, USA
8. Simon Henin, NYU Langone Health, New York City, New York, USA
9. Giulio Tononi, University of Wisconsin–Madison, Madison, Wisconsin, USA
10. Stanislas Dehaene – CEA NeuroSpin, Paris/Saclay, Frankreich
11. Christof Koch, Allen Institute, Seattle, Washington, USA