Das Werwolf-Syndrom beim Hund: Interview mit Dr. Nina Meyerhoff

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In Deutschland und anderen europäischen Ländern werden seit August 2024 vermehrt schwere neurologische Symptome bei Hunden beobachtet – mutmaßlich nach Verzehr von Kauknochen einzelner Hersteller. Das als „Werwolf-Syndrom“ bekannt gewordene Phänomen löst Besorgnis bei Hundehaltern aus.

Dr. Nina Meyerhoff

Im Rahmen einer Studie führten Tierärzte der TiHo Hannover und der LMU München eine Umfrage unter Hundebesitzern gemeinsam mit Tierneurologen durch, an der auch Dr. Nina Meyerhoff von der TiHo beteiligt war. Die Umfrage ist mittlerweile geschlossen.

Meyerhoff ist Diplomate des European College of Veterinary Neurology (DiplECVN), EBVS® European Specialist in Veterinary Neurology und führt die Zusatzbezeichnung Neurologie für Klein- und Heimtiere sowie ein ISVPS FCert in Geriatric Medicine (FCert(GerMed)). Sie arbeitet in der Abteilung Neurologie der Klinik für Kleintiere der TiHo Hannover als Tierärztin. Im Jahr 2018 erhielt sie den „John Presthus Prize for the best research presentation by an ECVN Resident at the Annual ECVN Symposium“.

Frau Dr. Meyerhoff, Sie sind an der Studie zum sogenannten Werwolf-Syndrom bei Hunden beteiligt. Wie sehen die typischen Symptome bei betroffenen Tieren aus?

Meyerhoff: Die klinischen Zeichen treten perakut oder akut auf, die Hunde waren vorher gesund und vom Verhalten her unauffällig. Typisch ist eine Kombination klinischer Zeichen, dazu gehören: 1. plötzliche Verhaltensänderungen und zeitweise unkoordinierte Bewegungsabläufe (Ataxie) 2. episodische, plötzliche und extreme Aufregung, Panikattacken mit Heulen, Unruhe und Schreien 3. Versuche, durch Fenster oder Türen zu entkommen 4. gelegentlich phasenweise plötzlich ungewohntes, aggressives Verhalten 5. anhand Beobachtung Hinweise auf „Halluzinationen“ bei einigen Patienten (schwer beweisbar bei Tieren, der Ausdruck ist aus der Humanmedizin entliehen) 6. in späteren Phasen generalisierte epileptische Anfälle.

Es ist ja so, dass Verhaltensveränderungen wie z. B. chronisch-progressive Geräuschangst, Verlassensangst oder Epilepsie (beim Hund oft „idiopathisch“ oder genetisch) häufige Erkrankungen bei Haushunden darstellen, jedoch ist in dieser spezifischen Fallserie das akute, sehr heftige, kombinierte Auftreten dieser klinischen Zeichen auffällig. Eine gründliche Anamnese und differenzialdiagnostische Abklärung sind deshalb besonders wichtig. Es ist entscheidend, sowohl die Fütterungshistorie als auch andere potenziell wichtige Informationen zu erfragen. Neurologische Untersuchungen, wie auch MRT oder Gehirnwasseranalysen, können zur weiteren Abklärung notwendig sein.

Der Begriff „Werwolf-Syndrom“ ist aus der Humanmedizin entlehnt und etwas irreführend …

Meyerhoff: Da viele der betroffenen Hunde stark jaulen, wurde der Begriff Werwolf von der Presse aufgegriffen. Die Symptomatik hat aber nichts mit überstarker Behaarung wie beim Krankheitsbild beim Menschen zu tun.

Sind bisher Todesfälle unter den Hunden zu verzeichnen?

Meyerhoff: Bei uns in der Klinik gab es keine betroffenen Hunde, die verstorben sind. Prinzipiell sind aber natürlich unbehandelte epileptische Anfälle lebensgefährlich. Ebenso weiß ich, dass bei neurologischen Kollegen eine Handvoll Hunde im frühen Herbst 2024 eingeschläfert wurde, da diese im Familienalltag nicht mehr händelbar waren und eine Gefahr für sich selbst und die Menschen darstellten – damals war zu möglicher Ursache, Prognose und optimaler Therapie ja noch nichts bekannt, wir wussten damals noch nicht, dass es sich um eine Fallserie handelt.

Welchen Hirnarealen sind die Symptome zuzuordnen?

Meyerhoff: Dem Großhirn und insbesondere bezüglich der Verhaltenssymptomatik dem limbischen System.

Wie lange halten die Symptome im Regelfall respektive Extremfall an?

Meyerhoff: Dies ist extrem unterschiedlich und wir müssen dazu noch eine größere Datenmenge aus einer Studie auswerten. Bei vielen der betroffenen Hunde haben sich die extrem dramatischen klinischen Zeichen mit symptomatischer Therapie und Ende der Kauknochengabe nach 1-3 Tagen deutlich gebessert. Jedoch berichten viele Halter, dass die Hunde noch wochenlang etwas schreckhafter und reizempfindlicher sind und manche haben anscheinend auch bestimmte Orte, an denen Panikattacken stattfanden negativ verknüpft. Dies muss dann mit positivem Verhaltenstraining behandelt werden.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Kauknochen der Auslöser sind?

Meyerhoff: Bei den durch spezialisierte Tierneurologen beschriebenen und abgeklärten Fällen ist der zeitliche Zusammenhang eindeutig, zudem sind häufig dann alle Hunde im Haushalt betroffen gewesen, die Kauknochen gefressen haben. Beispielsweise mussten ein Labrador und ein Schäferhund in einer Klinik behandelt werden, während ein Chihuahua, der im selben Haushalt lebt, aber keine Kauknochen erhalten hatte, symptomfrei war. Wichtig ist: Natürlich gibt es auch weiterhin zig andere individuelle Ursachen für Verhaltens- oder Wesensveränderungen und insbesondere für epileptische Anfälle.

Welche Produkte stehen unter Ver dacht, die Symptome auszulösen?

Meyerhoff: Uns sind die Fälle bisher nur nach Verzehr von Rinderhautknochen bekannt. In Finnland, Dänemark und den Niederlanden gab es Rückrufaktionen verschiedener Markenprodukte. Sollte man bei seinem eigenen Hund einen Verdacht haben, macht es Sinn das regionale Veterinär/Verbraucherschutzamt und den Hersteller zu informieren.

Wie schnell treten Symptome nach Verzehr eines Kauknochens auf? Und welche Hunde sind betroffen?

Meyerhoff: Nach bisherigem Stand wenige Stunden bis circa 2 Tage nach dem Verzehr. Viele der bestätigten Fälle waren eher mittelgroße bis große Rassen und Mischlinge, weniger Toy-Rassen und meist jung bis mittelalt. Keine Geschlechtsdisposition. Die Daten der großen Risi koanalyse stehen aber noch aus.

Würde es Sinn machen, den Hund zum Erbrechen zu bringen, wenn die Exposition erst kurz zurückliegt?

Meyerhoff: Dafür gibt es leider aktuell keine Evidenz. Viele Hunde wurden auch erst 1–2 Tage nach Aufnahme der Knochen vorgestellt. Bei akuter Aufnahme von Giftstoffen sollte das Erbrechen nur eingeleitet werden, wenn keine erhöhte Aspirationsgefahr (z. B. durch Anfälle) besteht. Ansonsten müsste eine Magenspülung erfolgen.

Bei welchen Symptomen sollten Hundehalter hellhörig werden und ihr Tier einem Tierarzt zeitnah vorstellen?

Meyerhoff: Perakute episodische, sehr krasse Verhaltensveränderungen, zum Teil in Kombination mit epileptischen Anfällen nach den anfänglichen Verhaltensepisoden. Generell würde ich mein Tier aber bei jeder neurologischen Auffälligkeit bei einer Tierärztin bzw. einem Tierarzt vorstellen.

Welche Schritte sind notwendig für die Diagnosefindung?

Meyerhoff: Zur Basisdiagnostik gehören neben der allgemeinen klinischen und neurologischen Untersuchung die Blutuntersuchungen wie Blutbild, Organwerte, Elektrolyte, Gallensäuren, Ammoniakwerte, Harnanalysen und eventuell ein Tox-Screen. Zu weiterführenden Untersuchungen wird die Datenauswertung mehr Aufschluss geben. Es ist eine Ausschlussdiagnose mit mehreren Puzzlestücken.

Gibt es Hinweise auf Magenschmerzen oder Durchfall/Erbrechen?

Meyerhoff: Bisher eher nein, die uns vorgestellten Hunde zeigten keine Durckdolenz im Abdomen oder andere gastrointestinale Beschwerden. Durchfall tritt nicht regelmäßig auf. Einige Hunde waren jedoch mit Laktulose vorbehandelt, wodurch Durchfall auftreten kann.

Ist das Sehvermögen beeinträchtigt bei betroffenen Hunden?

Meyerhoff: Einige Hunde scheinen Umwelt/Halter nicht normal wahrzunehmen, Blindheit ist aber kein typisches Zeichen. Nach jedem epileptischen Anfall können Hunde vorübergehend Blindheit in der postiktalen Phase zeigen.

Wie erklären Sie sich, dass es bei manchen Hunden erst in fort geschrittenem Verlauf zu epileptischen Anfällen kommt?

Meyerhoff: Das ist aktuell unklar und weitere Forschung ist nötig. Denkbar wäre, dass die Hunde eine größere Menge potentieller Toxine aufgenommen haben oder verzögert behandelt wurden. Ebenso gibt es natürlich individuelle Unterschiede und unterschiedliche Krampfschwellen je nach Individuum.

Könnten Farbstoffe, pharmakologische Substanzen oder Viren/Bakterien/Pilz-/Algentoxine die Symptome verursachen?

Meyerhoff: Psychoaktive Substanzen könnten ähnliche klinische Zeichen verursachen. Es gibt auch einige ältere Veröffentlichungen aus den 1940er- und 1950er-Jahren, die „canine hysteria“ nach Aufnahme von Keksen mit gebleichtem Mehl beschreiben, diese Berichte ähneln den aktuellen Fällen sehr und einige Bleichmittel können Epilepsie auslösen. Doch auch Toxine, und hier insbesondere Mykotoxine, können psychoaktive und neurotoxische Effekte haben.

Wie sehen die therapeutischen Maßnahmen aus?

Meyerhoff: Hunde mit sehr krassen Episoden oder sogar epileptischen Anfällen können intravenös Diazepam 1–2mg/kg, Midazolam 0,3-0,5mg/kg i. v. oder i. m. und Phenobarbital 2–3mg/kg i. v. erhalten. Hunde mit generalisierten epileptischen Anfällen sollten danach für mehrere Wochen bis Monate eine Dauertherapie mit Antikonvulsiva wie Phenobarbital oder Imepitoin erhalten. Kardiovaskulär gesunde Hunde, die akut schlecht händelbar sind können auch bis zu 0,015-0,02 mg/kg Dexmedetomidin i. m. erhalten. Einige Hunde erhielten stationär eine Dexmedetomidin-Dauertropfinfusion nach Bedarf (0,025 mg/m² Bolus, anschließend eine individuell regulierbare Dauerinfusion von bis zu 0,025 mg/m²/h. Hier sind unbedingt regelmäßig kardiovaskuläre Kontrollen hinsichtlich Bradykardie etc. durchzuführen. Als orale anxiolytische und mild sedierende Medikation eignen sich Pregabalin 4mg/kg 2-3-mal täglich oder Gabapentin 10–20mg/kg 2-3 mal täglich, nach Bedarf in Kombination mit Trazodon 2–7mg/kg 2-3-mal täglich. Das muss man individuell anhand Schweregrad der Symptomatik und etwaiger Vorerkrankungen entscheiden. Wichtig ist, die orale Medikation nach längerer Gabe nicht abrupt abzusetzen, sondern langsam auszuschleichen. Eine reizarme Umgebung und ruhiger Umgang ist ebenso wichtig.

Wäre die Verabreichung von Aktivkohle/Kohle-Tabletten bei betroffenen Hunden, eventuell für einen längeren Zeitraum, sinnvoll?

Meyerhoff: Dies ist prinzipiell bei jeglichem akuten Vergiftungsverdacht eine gute Option. Über die Evidenz für diese Maßnahme bei den betroffenen Hunden gibt es aktuell keine Daten.

Was können Hundehalter als Erstmaßnahme zuhause für ihr Tier tun?

Meyerhoff: Die Situation kann extrem belastend sein. Bei Tieren, die betroffen, sind sollte nach Möglichkeit auf eine reizarme Umgebung und klare Alltagsstruktur („Vorhersehbarkeit”) geachtet werden. Sollte die erste Episode im öffentlichen Raum auftreten, sollte man, sobald es geht, einen ruhigen, geschützten Ort aufsuchen und das Tier nicht ableinen. Führen an Geschirr und Leine ist sinnvoll, falls die Hunde plötzlich Fluchttendenzen entwickeln. Ein Halsband bietet hier nicht immer genug Schutz, da der Hund sich herauswinden kann. Zudem muss man damit rechnen, dass der Hund in den Episoden auf übliche, zuvor eingeübte Kommandos nicht reagieren kann. Der Umgang mit Kindern sollte daher nach Möglichkeit vermieden werden, bis es dem Tier besser geht. Das betroffene Tier sollte zudem zeitnah einer tierärztlichen Untersuchung unterzogen werden, um andere Erkrankungen und Schmerzen rechtzeitig zu erkennen sowie therapeutisch eingreifen zu können. Bei einem epileptischen Anfall sollte das Tier wenn möglich sicher gelagert werden (z. B. Abstand zu Treppen, scharfen Kanten,…), Reize (Licht, Musik etc.) sollten minimiert werden. Wenn vorhanden, können geeignete schnell wirksame Notfallmedikamente (verschreibungspflichtig) verabreicht werden, um den Anfall abzukürzen. Bei sehr langen Anfällen kann man das Tier vorsichtig kühlen und muss es dann unbedingt zur tierärztlichen Praxis bringen. Auf keinen Fall sollte man ins Maul greifen.

In welchen Ländern trat/tritt das Werwolf-Syndrom auf und wie viele Fälle sind bisher bekannt?

Meyerhoff: Bisher wurden im deutschsprachigen Raum mindestens 60 betroffene Hunde bei Tierneurologen vorgestellt, wobei die Dunkelziffer grade für Spätsommer/Herbst aufgrund der unspezifischen Symptome vermutlich höher ist. Viele Hunde wurden vermutlich in niedergelassenen Praxen vorgestellt, diese Zahlen werden nirgendwo zentral erfasst. Die Daten unserer großen Umfrage zur Risikoanalyse stehen noch aus. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt mit Tierneurologen aus Österreich, Schweiz, Benelux, Frankreich sowie Intensivmedizinern aus Ungarn, und es haben sich auch viele Tierärzte aus Dänemark und Finnland gemeldet. In Finnland etwa traten schon im Sommer 2024 ähnliche Fälle auf, in Benelux und Frankreich vermehrt seit diesem Winter. Zudem berichten tierärztliche Kollegen von ähnlichen Fällen in Belgien und den Niederlanden. Genaue Fallzahlen können wir dazu aber nicht nennen.

Liebe Frau Dr. Meyerhoff, herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview, das in Kompakt VetMed 01/2025 erschienen ist, führte Tierärztin Sigrun Grombacher.