DGN-Leitlinie zum “Schleudertrauma”: Einer Chronifizierung entgegenwirken

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Zwölf von 100 Betroffenen haben sechs Monate nach einem Unfall mit Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule („Schleudertrauma“) noch Beschwerden. Eine neue S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie thematisiert daher auch Mechanismen der Schmerzchronifizierung.

Ein unaufmerksamer Moment, der nachfolgende Wagen fährt auf, wenig später schmerzt der Nacken. Die meisten Beschleunigungstraumata der Halswirbelsäule sind als leicht bis moderat einzustufen, schwere Verletzungsfolgen bleiben in der Regel aus. Dennoch: Es kommt zu muskelkaterähnliche Nackenschmerzen und Nackensteife, was für die Betroffenen sehr unangenehm sein kann. Denn neben den Schmerzen kann es auch zu Schwindel, Tinnitus (Ohrensausen) oder Kopf- und Kieferschmerzen kommen.

Was genau die Schmerzen und Begleitsymptome auslöst, ist nicht abschließend geklärt. In der Bildgebung wie Computertomographie oder Kernspintomographie sind in der Regel keine Verletzungen sichtbar, weshalb ExpertInnen von einer entzündlich-reparativen Gewebereaktion nach der mechanischen Gewebeschädigung ausgehen.

Bei den meisten Betroffenen gehen die Beschwerden nach einigen Tagen zurück. „Doch bei einem Teil der Patientinnen und Patienten werden diese Beschwerden chronisch“, erklärt Prof. Martin Tegenthoff, Bochum, federführender Autor der neu überarbeitete DGN-S1-Leitlinie „Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule“.

Chronisch, so definiert es die neue Leitlinie, heißt, dass die Beschwerden über sechs Monate anhalten. „Während der Großteil der Betroffenen spätestens nach einem Monat wieder ‚fit‘ ist und keine Beschwerden mehr hat, muss leider konstatiert werden, dass etwa zwölf Prozent der Patientinnen und Patienten nach sechs Monaten noch nicht beschwerdefrei sind“, so der Experte.

Die Gefahr der Schmerzchronifizierung in Folge einer HWS-Beschleunigungsverletzung ist also gegeben, und die Leitlinie fokussiert daher auch auf Strategien, einer Chronifizierung entgegenzuwirken. So sollten ein traumatisches Erleben des Unfalls, beispielsweise im Sinne einer akuten Belastungsreaktion nach dem Unfall, ebenso wie psychische Störungen in der Vorgeschichte vom behandelnden Arzt mit erfasst werden, da es sich hierbei um Risikofaktoren für die Entwicklung chronischer Schmerzen handle. Psychische Komorbiditäten sollten abgeklärt und gegebenenfalls behandelt werden – beispielsweise seien Menschen mit Depression deutlich gefährdeter, chronische Schmerzerkrankungen zu erleiden.

„Für eine erfolgreiche Therapie spielen Verhalten, Erwartungen und Einstellungen des Patienten, aber auch des Therapeuten eine wesentliche Rolle. Es ist deshalb wichtig, auf bestimmte Risikofaktoren zu achten: etwa dysfunktionale Schmerzbewältigungsstrategien oder eine depressive Stimmungslage“, erklärt Tegenthoff.

Kommt es zu einem langwierigen und komplizierten Verlauf, empfehlen die neuen Leitlinien eine interdisziplinäre multimodale Therapie, in der die medikamentöse Behandlung, beispielsweise mit Antidepressiva, und eine kognitive Verhaltenstherapie und Physiotherapie kombiniert werden. „Zwar fehlen noch definitive Wirksamkeitsbeweise des multimodalen Ansatzes, aber die Erfolge in der Praxis sind sehr gut, so gut, dass auch viele Unfallversicherer zu dieser Therapie, die aktuell überwiegend in Spezialambulanzen und Schmerzkliniken angeboten wird, raten.“