Diabetes: Gezielte Prävention durch individuelle Risikoabschätzung

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Ein neu entwickeltes Nomogramm von US-Forschenden ermöglicht Ärzten die Vorhersage des individuellen Diabetesrisikos auf der Grundlage von Alter, Geschlecht, BMI und Nüchternblutzucker. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) sieht darin neue Möglichkeiten für verbesserte und gezielte Präventions- und Beratungsstrategien.

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat eine bereits im Januar in der Fachzeitschrift „JAMA“ veröffentlichte Studie1 zum Anlass genommen, ihre Forderungen nach einer Stärkung der Früherkennung sowie einem Ausbau der Präventionsangebote zu bekräftigen.

Die Ergebnisse der Studie hatten gezeigt, dass sich das Risiko, in den nächsten zehn Jahren an Diabetes zu erkranken, anhand weniger Routineparameter wie Nüchternblutzucker, Alter, Geschlecht und Body-Mass-Index (BMI) recht zuverlässig vorhersagen lässt. Die DDG betont deshalb, dass Risikofaktoren für Diabetes nicht isoliert, sondern immer im Zusammenspiel betrachtet werden sollten.

Entscheidende Rolle: Nüchternblutzucker

In der Rochester Epidemiology Project-Studie wurden fast 45.000 US-amerikanische Erwachsene im Alter zwischen 18 und 65 Jahren untersucht. Innerhalb von rund sieben Jahren erkrankten 8,6 Prozent von ihnen an Diabetes. Im Zehn-Jahres-Verlauf lag das Risiko insgesamt bei 12,8 Prozent. Auffällig war: Bereits Nüchternblutzuckerwerte im oberen Normalbereich (95–99 mg/dl, entsprechend 5,3–5,5 mmol/l) erhöhten das Risiko, an Diabetes zu erkranken. Kombinierte sich dieser Befund mit Übergewicht, verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit für Diabetes. Stiegen die Werte noch weiter an, vervierfachte sich das Risiko sogar.

„Die Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, wie wichtig der Nüchternblutzucker für die Risikoabschätzung ist“, sagt DDG Präsidentin Prof. Julia Szendrödi aus Heidelberg. „Auch Werte im Bereich des Prädiabetes müssen ernst genommen werden. Durch die Kombination mit Alter, Geschlecht und BMI wird das individuelle Risiko noch klarer sichtbar – so können wir Menschen gezielt identifizieren, die besonders gefährdet sind.“

Früherkennung erleichtert gezielte Prävention

Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Adrian Vella entwickelte eine Tabelle (Nomogramm) mit der sich das individuelle Risiko für die kommenden zehn Jahre berechnen lässt. Damit haben Ärzte ein einfaches Werkzeug, um in der Praxis Hochrisikopatienten zu erkennen – auch dann, wenn Nüchternblutzuckerwerte noch im Normalbereich liegen.

„Das eröffnet Chancen für eine wirksame Prävention“, betont DDG Vizepräsident Dr. Tobias Wiesner. „Wir können betroffene Menschen früher identifizieren und mit ihnen über Veränderungen im Lebensstil sprechen – etwa zu Ernährung, Bewegung und Gewichtskontrolle“, so der niedergelassene Diabetologe aus Leipzig.

Die beiden DDG Mediziner weisen jedoch darauf hin, dass die Studienergebnisse Einschränkungen unterliegen. So wurde der Nüchternblutzucker jeweils nur einmal bestimmt. Zudem basiert diese retrospektive Analyse auf einer regionalen Kohorte in den USA, deren Übertragbarkeit auf andere Bevölkerungen weiter überprüft werden muss.

Zusammenfassung des Nomogramms: Vier Risikokategorien im 10-Jahres-Vergleich

  • Referenzgruppe (niedrigstes Risiko, ca. 5 %): Frauen unter 30 Jahren, BMI 18,5–24,9 kg/m2 und Nüchternblutzucker 80–94 mg/dl (4,4–5,2 mmol/l)
  • Leicht erhöhtes Risiko (ca. 12 %): Nüchternblutzucker 95–99 mg/dl (5,3–5,5 mmol/l) oder BMI 25–29,9 kg/m2
  • Mittleres Risiko (ca. 26 %): Kombination aus BMI 30–34,9 kg/mund Nüchternblutzucker 100–104 mg/dl (5,6–5,8 mmol/l)
  • Hohes Risiko (bis 56 %): BMI ≥40 kg/mund Nüchternblutzucker 120–125 mg/dl (6,7–6,9 mmol/l), besonders bei Männern ab 60 Jahren

Beratung und Prävention brauchen Rahmenbedingungen

Die Ergebnisse machen deutlich, dass die erstbetreuenden Hausarztpraxen ein einfaches Instrument haben, um Risikopatienten zu testen und hinsichtlich des Diabetes zu identifizieren. Bei Bedarf stehen die diabetologischen Schwerpunktpraxen im Therapieprozess, beispielsweise mit Schulungen, zur Verfügung. Es zeigt auch, dass eine qualifizierte diabetologische Beratung an Bedeutung gewinnt – gerade angesichts stetig steigender Erkrankungszahlen.

Je mehr in eine strukturierte Versorgung investiert wird, desto besser lassen sich individuelle Risiken senken, weil Aufklärung, Begleitung und konkrete Maßnahmen möglich werden. Doch das alleine reicht nicht aus. „Wir brauchen auch politische Rahmenbedingungen, die die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen“, gibt DDG Geschäftsführerin Barbara Bitzer zu Bedenken.

Dazu gehören eine dauerhafte Mehrwertsteuerbefreiung für Obst und Gemüse, eine Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Getränke nach britischem Vorbild sowie strengere Regeln für Werbung ungesunder Lebensmittel gegenüber Kindern. Außerdem fordert die DDG eine verpflichtende und klare Nutri-Score-Kennzeichnung, die Verankerung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie den Ausbau der „Prävention auf Rezept“ mit individualisierten Programmen für Hochrisikogruppen2.