Diagnostik seltener Erkrankungen: Genomsequenzierung besser als Standardmethoden

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Eine Single-read-Genomsequenzierung erfasst schneller und genauer krankheitsverursachende Veränderungen im Erbgut als bisherige Standardmethoden. Das zeigt eine deutsche Forschungsgruppe im Fachmagazin „Genome Medicine“.

Zur Diagnostik seltener Erkrankung wird derzeit standardmäßig eine Kombination traditioneller Diagnosemethoden vorgenommen. Dazu zählen Karyotypisierung, Array-komparative Genomhybridisierung und Exomsequenzierung. Diese Methoden sind zwar effektiv, aber in der Anwendung zeitaufwendig und unterliegen aufgrund ihrer inhärenten Auflösungsbeschränkungen nach wie vor erheblichen Einschränkungen bei der Erkennung nicht kodierender Varianten, kleinerer struktureller Varianten und komplexer genomischer Umlagerungen.

Die Short-read-Genomsequenzierung (GS) ist im Gegensatz dazu in der Lage, Einzelnukleotidvarianten, Kopienzahlvarianten, mitochondriale Varianten, Repeat-Expansionen und strukturelle Varianten in einem einzigen Assay zu erkennen. Damit gehört das Verfahren zu den umfassendsten verfügbaren genetischen Testmethoden. Doch erweist es sich auch unter realen Bedingungen als vorteilhaft im Vergleich zur bisherigen Standarddiagnostik?

Vergleich von Genomsequenzierung und Standard-Gentests

Dieser Frage widmete sich das interdisziplinäre Team um Prof. Malte Spielmann und Dr. Inga Nagel, Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) und der Universitäten in Kiel und Lübeck. Unter Einbeziehung von mehr als 400 Patienten mit seltenen Erkrankungen verglichen sie die diagnostischen Leistungen der Singleton-GS (sGS) sowie der Trio-GS (tGS) mit exomsequenzierungsbasierten Standard-of-Care(SoC)-Gentests. Während bei der sGS nur das Genom des Patienten analysiert wird, wird bei der tGS auch das der Eltern in die Analyse mit einbezogen. Ziel war, zu überprüfen, ob die GS tatsächlich als „One-Test-for-All“-Strategie für seltene Krankheitsfälle dienen kann.

Drei unabhängige Teams mit unterschiedlichen Ausgangskenntnissen bewerteten in der prospektiven verblindeten Studie die diagnostische Leistung von sGS und tGS als einheitlichem Ersttest und verglichen direkt dessen Variantenerkennungsfähigkeiten, Lernkurve und klinische Durchführbarkeit. Das SoC-Team verfügte über umfangreiche Vorkenntnisse in der exombasierten Diagnostik, während die sGS- und tGS-Teams neu in der GS-Interpretation geschult wurden.

Genomsequenzierung übertrifft Standardmethodik

Die höchste Erfolgsrate bei der Identifizierung krankheitsverursachender Veränderungen erzielte die tGS mit einer diagnostischen Leistung von 36,1 Prozent für wahrscheinlich pathogene/pathogene Varianten im neu geschulten Team. Damit wurde das erfahrene SoC-Team mit 35,1 Prozent und das neu geschulte sGS-Team mit 28,8 Prozent übertroffen.

Um zu bewerten, welche Varianten technisch identifiziert werden konnten und Unterschiede in der Teamerfahrung zu erklären, führten die Forscher zusätzlich eine retrospektive Analyse durch. Dabei erzielten sie eine diagnostische Leistung von 36,7 Prozent für SoC, 39,1 Prozent für sGS und 40,0 Prozent für tGS. Die überlegene Leistung der GS führen sie auf deren Fähigkeit zurück, tiefe intronische, nicht kodierende und kleine Kopienzahlvarianten zu erkennen, die von SoC übersehen wurden. Die Studienautoren heben ferner hervor, dass tGS drei De-novo-Varianten identifizierte, die kürzlich als wahrscheinlich pathogen eingestuft wurden.

Verkürzung der diagnostischen Odyssee

„Unsere Ergebnisse belegen, dass die Ganzgenomsequenzierung das Standardvorgehen klar übertrifft“, resümiert Letztautor Spielmann, Direktor des Instituts für Humangenetik. „Sie kann die Diagnose deutlich vereinfachen und beschleunigen.“ Dabei erwies sich der Trio-Ansatz insbesondere für weniger erfahrene Teams als besonders wertvoll, da die Vererbungsdaten die Interpretation der Varianten erleichterten und eine hohe diagnostische Ausbeute sicherstellten, erläutern die Forscher. Erfahrene Teams erzielten hingegen allein mit der Singleton-Analyse vergleichbare Ergebnisse. Nach Ansicht der Autoren sollte daher erwogen werden, die GS bei Patienten mit seltenen Erkrankungen als genetischen Test der ersten Wahl zu verwenden, um ihre diagnostische Odyssee zu verkürzen.

An der Studie war unter anderem das Zentrum für Seltene Erkrankungen des UKSH und das Institut für Klinische Molekularbiologie des UKSH und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wesentlich beteiligt. Das UKSH beteiligt sich seit vergangenem Jahr als eine der ersten Universitätsklinika in Deutschland an dem bundesweiten Modellvorhaben Genomsequenzierung (genomDE). Es eröffnet für Patienten mit seltenen Erkrankungen und Krebs, der nicht auf Standardbehandlungen anspricht, den Zugang zu moderner genetischer Diagnostik, die zum Beispiel den Einsatz maßgeschneiderter Therapien ermöglicht.

(ah/BIERMANN)