Die tumorbedingte Querschnittlähmung – Analyse einer individuellen und interdisziplinären Erstbehandlung

Das COaTSCI-Projekt (Comparative Outcome- and Treatment-Evaluation in Spinal Cord ­Injury) hat das Ziel der explorativen Analyse von Behandlungspfaden, Komplikationen, Outcome, Behandlungsdauer und -kosten von Rückenmarksverletzungen. Foto: Liebscher

Der folgende Beitrag stellt eine Analyse einer individuellen und interdisziplinären Erstbehandlung einer tumorbedingten Querschnittlähmung vor. Dabei sind insbesondere der Patientenwille und die Therapieziele das Fundament der individuellen Erstbehandlung.

Es gibt in Deutschland eine hohe Qualität der wirbelsäulenchirurgischen, onkologischen und paraplegiologischen Versorgung von Querschnittgelähmten, die über eine Bündelung von Kompetenzen und Zentrumsbildungen erreicht wird.

Erstbehandlung einer Querschnittlähmung in Deutschland

Die spezialisierte paraplegiologische Behandlung findet in 27 Zentren statt, welche von der medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie (www.dmgp.de) zertifiziert sind. Die BG-Kliniken des Klinikverbundes der Gesetzlichen Unfallversicherung stellen mit circa 586 Betten über 50 Prozent der 1058 Betten zur Behandlung von Querschnittgelähmten und sind somit ein wichtiger Bestandteil der (Erst)Versorgung (www.bg-kliniken.de).

Die Erstbehandlung basiert auf dem Konzept der vollumfassenden Behandlung nach Sir Ludwig Guttmann und sollte am Ort des Lähmungseintritts beginnen. Dort werden die Weichen für eine optimale Versorgung mit Einweisung in ein wirbelsäulenchirurgisches Zentrum und Weiterbehandlung in einem Zentrum für Paraplegiologie gestellt. Die wirbelsäulenchirurgische Versorgung stellt aufgrund des operativen Schweregrades und der akuten Querschnittlähmung eine große Herausforderung für die Wirbelsäulenzentren dar. In diesen Zentren sollten erfahrene und DWG-zertifizierte Wirbelsäulenchirurg(inn)en (www.dwg.org) eine 24h/7d-Versorgung gewährleisten können.

Ätiologie der Querschnittlähmung

Die Inzidenz einer akuten Querschnittlähmung wird in Deutschland auf 1500 pro 83 Millionen Einwohner geschätzt, wobei der nichttrauma­tische Anteil zunehmend ist und bei 50 Prozent aller Fälle liegt. In der Agglomeration Berlin mit 4,5 Millionen Einwohnern wurden Patienten mit einer akuten Querschnittlähmung im Rahmen einer monozentrischen Studie zur Versorgungsforschung von 2011 bis 2018 eingeschlossen (Ethikvotum Charité Berlin EA2/015/15). Der Anteil der tumorbedingten Querschnittlähmung lag bei 15 Prozent. Wirbelsäulenmetastasen stellten mit 90 Prozent (Prostata und Lunge 25 %, Niere 18 %) im Vergleich zu Primär­tumoren des Knochenmarks (Multiples Myelom 7 %) oder des Stütz- und Bindegewebes den größten Anteil.

Erstbehandlung der tumor­bedingten Querschnittlähmung

Neben den epidemiologischen Krebsregistern der Bundesländer und dem Wirbelsäulenmetastasenregister (www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02830451) ist eine Behandlungsanalyse auf diesem Gebiet nur über eine vergleichende Versorgungs­forschung möglich. Das COaTSCI-Projekt (Comparative Outcome- and Treatment-Evaluation in Spinal Cord ­Injury) hat das Ziel der explorativen Analyse von Behandlungspfaden, Komplikationen, Outcome, Behandlungsdauer und -kosten. Im Zeitraum von 2011 bis 2017 wurden 365 Fälle einer akuten Querschnittlähmung (traumatisch n=246; entzündlich n=64; tumorös n=55) untersucht (www.coatsci.org).

Charakteristisch für den tumor­bedingten Querschnitt waren bei Aufnahme das hohe Alter (Median: 68 Jahre) und der größere Anteil einer sensomotorisch inkompletten Querschnittlähmung (71 %). In 50 Prozent der Fälle war der thorakale Wirbelsäulenbereich betroffen. Der Anteil der Hals- und Lendenwirbelsäulenpathologien war mit 25 Prozent gleichermaßen hoch (Tab. 1).

Alle Patienten wurden aufgrund der akuten Querschnittlähmung über die Rettungsstelle aufgenommen. Es wurde die Primärdiagnostik mit CT Thorax/Abdomen/Kopf und MRT der gesamten Wirbelsäule durchgeführt. Das Behandlungsprozedere wurde interdisziplinär und mit den Patienten/Angehörigen am Aufnahmetag festgelegt. In 87 Prozent der Fälle erfolgte eine zeitnahe wirbelsäulenchirurgische Dekompression des Spinalkanals mit Gewebeentnahme und je nach pathologischer Frakturinstabilität eine Osteosynthese. Wirbel­säulenchirurgische Komplikationen traten weniger auf (9 %) als bei den komplexeren Verletzungsmustern nach einer traumatischen Querschnittlähmung (24 %). Wirbelsäulen­chirurgische Operationen wurden nicht durchgeführt bei Inoperabilität, fortgeschrittenem Tumorleiden (Tumor-Scores nach Tokuhashi und Tomita) oder bei entsprechendem Patien­tenwillen.

In der Erstbehandlung tumor­bedingter Querschnittlähmungen traten weniger Komplikationen (Lungen- und Harnwegsinfektion) auf als bei traumatischen oder entzündlichen Ursachen. Thromboembolien und heterotope Ossifikationen traten nicht auf. Gründe sind unter anderem der hohe Anteil der sensomotorisch inkompletten Lähmung und die kür­zere stationäre Aufenthaltszeit. Dennoch war der Anteil von Dekubitus I-II° im Vergleich zu den anderen Querschnitt­ätiologien ähnlich hoch (Tab. 2).


Nach Vorliegen der histologischen und immunhistologischen Befunde erfolgte immer die Meldung an das Klinische Krebsregister und eine Vorstellung im Tumorboard, wo die weitere onkologische Behandlung festgelegt wurde. Bei rollstuhlpflichtigen Patienten wurde die onkologische Behandlung in einem Tumorzentrum stets stationär durchgeführt. Mit Abschluss der onkologischen Behandlung wurden Patienten mit fehlender ambulanter Versorgung weiter in unserem Querschnittzentrum behandelt. Aufgrund der möglichst frühzeitigen onkologischen Behandlung war die Zeit der Erstbehandlung (Median 23d) und die damit verbundenen Gesamtkosten (Median 19.300,- €) im Vergleich zu den anderen Querschnitt­ätiologien niedrig (Tab. 3).


Alle Patienten erhielten das Angebot des Palliativdienstes. In 88 Prozent der Fälle war der Patientenwille dokumentiert. 16 Prozent der Patienten verstarben in der Erstbehandlung.

Schlussfolgerung und Fazit

Patientenwille und Therapieziele sind das Fundament der individuellen Erstbehandlung einer tumorbedingten Querschnittlähmung. Am Aufnahmetag muss unter Berücksichtigung des Lähmungseintritts, der Operabilität und des Stadiums der Tumorerkrankung entschieden werden, ob ein wirbelsäulenchirurgischer Eingriff durchgeführt wird. Im weiteren Verlauf bedarf es einer engen Zusammen­arbeit zwischen der Wirbelsäulen­chirurgie, dem Tumorboard, der Paraplegiologie und dem Palliativdienst, um eine optimale primär stationär und später ambulante Patienten­versorgung mit geringer Rate von querschnitt­spezifischen Komplikationen in der palliativen Situation zu erreichen.

Thomas Liebscher
(Foto: Liebscher)


► Autoren:
Dr. med. Thomas Liebscher1,2
Hr. Martin Kreutzträger1, Dr. med. Kerstin Rehahn1, Dr. med. Michael Weitzel3, Prof. Dr. med. Gerald Niedobitek4, Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp5, Dr. med. Marcel A. Kopp2,6

  1. Unfallkrankenhaus Berlin, Behandlungszentrum für Rückenmarkverletzte
  2. Charité-Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Neurologie und Abteilung für Experimentelle Neurologie
  3. Unfallkrankenhaus Berlin, Palliativmedizin
  4. Unfallkrankenhaus Berlin, Institut für Pathologie
  5. Unfallkrankenhaus Berlin, Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie
  6. Berlin Institute of Health, QUEST- BIH Center for Transforming Biomedical Research