E-Patientenakten füllen sich – und sorgen für Verwirrung

Die elektronische Patientenakte: Leidet das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt durch die Transparenz der ärztlichen Codierungen? Symbolbild: agenturfotografin – stock.adobe.com

Befunde, Laborwerte und andere Gesundheitsdaten: Versicherte können sie digital parat haben, denn seit einem Monat müssen medizinische Einrichtungen sie in die E-Akte laden. Für so manchen Patienten halten die Einträge aber auch unliebsame Überraschungen bereit.

Die Verwendung elektronischer Patientenakten (ePA) zieht einen Monat nach Beginn des verpflichtenden Einsatzes für Ärzte an. Im Oktober wurden 10,6 Millionen Dokumente hochgeladen, wie aus Daten der mehrheitlich bundeseigenen Digitalagentur Gematik hervorgeht. Insgesamt gibt es demnach inzwischen 37 Millionen Uploads in die neuen E-Akten, wovon etwas mehr als die Hälfte auf medizinische Befunde und Berichte entfällt.

Gematik-Geschäftsführer Florian Fuhrmann sagte, es seien immer mehr versorgungsrelevante Informationen für die Behandlung zugänglich. Im Schnitt kämen wöchentlich etwa 2,6 Millionen Dokumenten-Uploads hinzu – und außerdem eine Vielzahl an Informationen zu Medikamenten.

Freiwillig für Patienten – Pflicht für Praxen

Rund 70 Millionen der gut 74 Millionen gesetzlich Versicherten haben schon seit Januar eine ePA von ihrer Krankenkasse angelegt bekommen, was man für sich auch ablehnen kann. Die Nutzung in Praxen wurde seit dem Frühjahr zunächst auf freiwilliger Basis ausgedehnt. Seit 1. Oktober sind Gesundheitseinrichtungen verpflichtet, wichtige Daten in die E-Akten einzustellen. Sie können Patienten ein Leben lang begleiten und sollen zu besseren Behandlungen beitragen.

Aktuell nehmen laut Gematik 70.500 der bundesweit 98.500 Arztpraxen teil. Dabei waren Ende vergangener Woche auch 22.700 Zahnarztpraxen, knapp 10.900 Apotheken und 883 Kliniken. Technisch sind demnach rund 95 Prozent der Arztpraxen, Zahnarztpraxen und Apotheken mit ePA-Softwaremodulen für ihre Verwaltungssysteme ausgestattet – bei den Kliniken knapp 90 Prozent.

Paienten überrascht von Diagnosen

Manche Patienten haben erstmals durch Einsichtnahme in ihre ePA von Diagnosen erfahren, die ihnen bis dahin unbekannt waren. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) führt dies auf die Diagnosecodierung mittels der „International Classification of Diseases“ (ICD-10)zurück. Diese könne zu „Missverständnissen“ in der ePA führen. In Einzelfällen könne die Dokumentation bestimmter Diagnosen sogar Nachteile für betroffene Patienten mit sich bringen, z. B. beim Abschluss privater Kranken-, Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherungen.

Die KVBW betont, dass jeder Arzt oder Psychotherapeut gesetzlich zwingend eine oder mehrere Diagnosen angeben muss, die den Behandlungsanlass bestmöglich beschreiben. Sonst könne eine Leistung nicht abgerechnet werden. Ebenso seien die Diagnosen verpflichtender Bestandteil von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Die Diagnoseerhebung und -dokumentation sei damit keineswegs nur für die Behandlung wesentlich, sondern spielt auch im Regelwerk des Gesundheitssystems eine zentrale Rolle.

Codierung mit Tücken

Die ICD-10-Codierung hat jedoch ihre Tücken: Es handelt sich um einen siebenstelligen Buchstaben- und Zahlencode, der aus einer Gesamtzahl von über 12.000 Codes ausgewählt werden muss. Das Verzeichnis der ICD-Klassifikation ändert sich zudem einmal jährlich mit rund 50–150 neuen ICD-Codes und 30–50 gestrichenen oder zusammengeführten Codes. Die KVBW gibt an, dass in Deutschland pro Jahr mehr als 1 Mrd. ICD-Codes erzeugt werden. „Damit passieren erwartungsgemäß auch Fehler“, beschwichtigt die KV in einer aktuellen Mitteilung zur ePA.

Noch verwirrender wird es, weil die in der ICD-Klassifikation verwendeten Begrifflichkeiten laut KVBW nicht genau der praxisüblichen Terminologie entsprechen. Zudem enthalten die ICD-Codes Informationen, die über die eigentliche Diagnose hinaus gehen. Denn die Codierung zeigt auch an, ob die Diagnosen gesichert und damit für den Arzt endgültig sind oder ob es sich lediglich um einen Verdacht handelt, der Anlass für den Arztbesuch war, sich aber nicht bestätigt hat. Weiter werden auch Diagnosen gekennzeichnet, die der Arzt ausschließt, und sogar der Wegfall eines Symptoms nach einer früheren Erkrankung wird angegeben.

Wenn Diagnosen sich fortpflanzen

Für die ärztliche Behandlung sei weiter die Kenntnis sogenannter Dauerdiagnosen von Bedeutung, betont die KVBW. Es handelt sich hierbei um Diagnosen aus der Krankengeschichte eines Patienten, die für die weitere Behandlung auch künftig von Relevanz sein können. Oft stammen bestimmte Diagnosen bereits aus dem Kindesalter, so dass Versicherten eine entsprechende Vorbehandlung selbst nicht mehr in Erinnerung ist, sich die Diagnose aber in der Praxis-EDV des Arztes und damit auch in der Leistungsabrechnung „fortpflanzt“, so die KVBW in ihrer Mitteilung. Die Angabe der ICG-10-Diagnosen könne für die Leistungsabrechnung relevant sein, auch wenn im jeweiligen Behandlungsquartal primär ein anderer Behandlungsanlass bestand.

Diagnosecodes seien ebenfalls erforderlich, um die Verordnung von Medikamenten zu rechtfertigen, so die KV weiter. Denn eine Verordnung ohne zur Zulassung des Medikaments passenden Diagnosecodes führe in vielen Fällen zu einem Regress für den Arzt.

Das ungeahnte Psycho-Problem

Besonderes Erstaunen löst bei Patienten oftmals eine psychosomatische oder psychosoziale Diagnose aus, von der sie erstmals in der ePA erfahren. So kann es vorkommen, dass der Patient wegen Rückenschmerzen zum Arzt geht und anschließend in der ePA eine psychosoziale Diagnose steht, weil neben den Schmerzen zusätzlich eine rückenschmerzverstärkende Belastungssituation am Arbeitsplatz einfließt.

Wenn aber Leistungen wie die psychosomatische Grundversorgung erbracht würden, sei zwingend mindestens eine Verdachtsdiagnose aus der Gruppe dieser Erkrankungen erforderlich, rechtfertigt die KV das Vorgehen der codierenden Ärzte. Damit steige die Zahl der angegebenen Diagnosen mit einem psychischen Hintergrund, auch wenn sich ein solcher Zusammenhang letztendlich nicht bestätigt, und auch, wenn das für die Patienten zunächst nicht bewusst ist.

Schuld ist wieder einmal die Bürokratie

Hinweise auf systematische Fehlhandhabung, etwa durch Angabe einer höher honorierten Diagnose lägen nicht vor, teilt die KVBW knapp und vorausschauend mit. Die Körperschaft überprüfe im Rahmen der Abrechnungsprüfung die Diagnosen auf Plausibilität. Anhand von Stichproben prüfe die KVBW zudem über die Behandlungsdokumentation, dass die Leistung tatsächlich erbracht wurde. Die KV könne jedoch keine ärztlichen Diagnosen korrigieren.

Insgesamt betont die KV, dass „die durch die ePA erzeugte Behandlungstransparenz (…) aus vielen Gründen auch zu Missverständnissen und Risiken im Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt führen“ könne. Diagnosecodierung im Zusammenhang mit Abrechnungs- und Wirtschaftlichkeitsprüfung sei außerdem ein gutes Beispiel für Überkontrolle und Überbürokratisierung des Gesundheitswesens. Die KVen fordern dahingehend rasche Entlastungen der Praxen durch Bürokratieabbau.

(ms/BIERMANN mit dpa)