Ebbe und Flut in den Hirnkammern

3D-Darstellung der vier Ventrikelvolumina eines Studienteilnehmenden. (Bild: Millward et al., MDC)

Vergrößerte Ventrikel im Gehirn von MS-PatientInnen galten bislang als Zeichen für Gewebeschwund. An Mäusen konnten Forschende allerdings zeigen, dass die Schwellung oft zurückgeht. Nun belegt eine aktuelle Studie, dass sich diese Beobachtung auch auf den Menschen übertragen lässt.

Normalerweise ist das Volumen der Hirnkammern in etwa konstant. 2013 machten Dr. Sonia Waiczies und ihre KollegInnen vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz Gemeinschaft (MDC) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin am Tiermodell für MS jedoch eine Entdeckung: Das Ventrikelvolumen veränderte sich während des Krankheitsverlaufs. Lösten sie bei Mäusen mittels eines Antigens eine Hirnentzündung aus, erweiterten sich die Kammern – im MRT deutlich sichtbar. „Jeder sagte, das kommt doch bestimmt durch die Atrophie des Gehirns!“, erinnert sich Waiczies.

Die Schwellung geht wieder zurück

Sind die Hirnkammern stärker geflutet, muss das Gehirn zwangsläufig kleiner werden. Denn wegen des umgebenden Schädelknochens kann es nirgendwohin ausweichen. Entzündungen schädigen zwar das Nervengewebe, aber nicht gleich so sehr, dass es sofort zu einer Atrophie kommt, also zu einem massiven Verlust an Hirnvolumen. Außerdem wäre dieser Prozess nicht reversibel. „Also haben wir weitere tierexperimentelle Reihen beantragt und Hirnvolumina über zwei Monate beobachtet“, erzählt die Neuroimmunologin. Etwa zehn Tage, nachdem die Hirnentzündung induziert wurde, waren die Hirnventrikel der Nager deutlich vergrößert – und wenige Tage später wieder auf ihre normale Größe zurückgeschrumpft. Genau wie MS-PatientInnen entwickelten sie weitere vorübergehende Schübe, wenn auch milder als die ersten Symptome. Und hierbei vergrößerten sich die Ventrikel erneut.

Eigentlich logisch, meint Waiczies, die auch MR-Wissenschaftlerin ist. „Wenn ich eine Entzündung beispielsweise im Gelenk habe, bildet sich ein Ödem und es schwillt an. Klingt die Entzündung ab, geht auch die Schwellung zurück.“ Das Team interessiert sich für den molekularen Mechanismus dieser Veränderungen. Aber zunächst einmal wollten sie wissen, ob diese Befunde klinisch relevant sind.

Archivdaten bestätigen neue Erkenntnisse

Die Vergrößerung des Ventrikelvolumens bei MS-PatientInnen gilt nach gängiger Lehrmeinung als Zeichen von Gehirnatrophie. Noch nie konnte man beim Menschen beobachten, dass die Ventrikel wieder kleiner wurden. Was bedeutet diese Beobachtung für die PatientInnen? Und ist sie überhaupt vom Tier auf den Menschen übertragbar? Um das zu prüfen, griffen die Forschenden für ihre aktuelle Studie auf umfangreiche MRT-Datensätze von MS-PatientInnen zurück. Sie hatten zwischen 2003 und 2008 an einer klinischen Studie der Charité teilgenommen, um die Wirkung eines neuen MS-Medikamentes zu testen. „Ich war damals in die immunologische Planung und Auswertung dieser Studie involviert und wusste, dass es sehr valide und umfangreiche MRT-Daten gab“, sagt Waiczies. Denn bei der Studie wurden die Teilnehmenden jeden Monat „in die Röhre“ geschoben.

„Entscheidend war die Häufigkeit der Messung im Laufe der Zeit. Das war eine einzigartige Gelegenheit für uns, festzustellen, ob es ähnliche Trends bei den Testpersonen gab“, erklärt Dr. Jason Millward, Neuroimmunologe an MDC und Charité und begeisterter Statistiker. „Und tatsächlich: Bei der Mehrheit der PatientInnen mit schubförmig verlaufender MS sahen wir vergleichbare Fluktuationen des Ventrikelvolumens. Genau wie bei den Mäusen.“ Millward fand heraus: PatientInnen mit Veränderungen des Ventrikelvolumens schienen in einer früheren Phase der Erkrankung zu befinden.

„Ventrikelvergrößerungen kennen wir auch von anderen neurodegenerativen Erkrankungen – etwa von Morbus Alzheimer oder Parkinson. Doch dort sind sie nie reversibel, sondern die Expansion nimmt stetig zu“, betont Prof. Thoralf Niendorf vom MDC, der auch am Experimental and Clinical Research Centers (ECRC) arbeitet, einer gemeinsamen Einrichtung von MDC und Charité. „Ein regelmäßiges Beobachten des Ventrikelvolumens bei MS-PatientInnen könnte helfen, temporäre Fluktuationen von fortschreitender Hirnatrophie zu unterscheiden.“ Damit ließe sich auch die Therapie auf die Betroffenen individueller zuschneiden.

Prof. Friedemann Paul, klinischer Neuroimmunologe an der Charité, ergänzt: „Aus klinischer Perspektive könnte die Untersuchung von Fluktuationen der Ventrikelvolumina in den Routine-MRT-Scans der PatientInnen ein interessanter Ansatz sein, um den Krankheitsverlauf oder Immuntherapien zu überwachen. Hierfür müssen allerdings noch größere Kohorten über längere Zeit untersucht werden.“ Wichtig sei dabei auch die Assoziation zu klinischen Befunden, etwa der Kognition. Wie genau es zu „Flut und Ebbe“ in den Hirnkammern kommt, wollen die Forschenden nun auf molekularer Ebene aufklären.

Originalpublikation:
Waiczies S et al. Transient enlargement of brain ventricles during relapsing-remitting multiple sclerosis and experimental autoimmune encephalomyelitis. JCI Insight 2020;Nov 5;5(21):140040.