Echtzeitüberwachung der Knochenheilung nach Brüchen: „Aus Science-Fiction-Technik wird Therapie-Realität“

Michael J. Raschke präsentierte das Fracture-Monitor-System auf dem DKOU (Foto: hr, Biermann Medizin)

Wie stabil ist eine Fraktur versorgt? Darf der Patient bereits voll belasten oder nicht? Solche Fragen könnten zukünftig leichter beantwortet werden, indem die Knochenheilung live auf dem Handy verfolgt werden kann. Diese Weltneuheit, die 2022 in einer europaweiten prospektiven klinischen Studie der AO-Forschungsstiftung untersucht werden wird, wurde auf dem DKOU vorgestellt.

Es oblag dem Kongresspräsidenten Prof. Michael Johannes Raschke, derin der AO Trauma die Kommission für Innovationen und neuen Entwicklungen (AOTC), mit Sitz in Davos (Schweiz) leitet, wegweisende Entwicklungen im Fach auf einer Pressekonferenz vorzustellen. Darunter das sogenannte Fracture-Monitor-System – ein „intelligentes Implantat“, das aus einem Bluethooth-Chip besteht, der auf einer Platte aufgesetzt werden kann. „Wir versprechen uns davon eine Zeitenwende in der Frakturversorgung, die völlig anders sein wird als das, was wir bisher gemacht haben“, betonte Raschke. Es sei nichts anderes als eine Revolution in der Therapiequalität.

„Nun können wir in Echtzeit beurteilen, wie der Heilungsprozess bei Brüchen verläuft. Wir sehen, ob Medikamente wie gewünscht wirken oder wie unsere Therapieempfehlungen den Patienten voranbringen.“ Diese „Intelligenten Implantate“ platziert der Chirurg oder die Chirurgin im Bereich der Fraktur. Sensoren übermitteln dann Informationen über die Stabilität und die Verformungen des Knochens auf ein handelsübliches Handy, was Auskunft über den Heilungsprozess gibt.

Raschke, demonstrierte das System an einem Modell. Ein künstlicher Oberschenkelknochen mit eingebauter Fraktur, die einen Heilungsprozess simulieren kann. Fixiert ist Fraktur durch eine handelsübliche Platte, an welcher der Chip angebracht ist. Sobald am Knochenende Kräfte mit den Händen eine Belastung auf den Knochen beziehungsweise die Fraktur ausüben, erscheinen auf dem Handymonitor Ausschläge von Kurven, die diese Kräfte widerspiegeln. Je besser der Knochen verheilt ist, desto geringer werden die Ausschläge oder übersetzt: Je härter der Knochen wird, desto stabiler wird er auch. Das könnten Ärzte nun exakt messen, so Raschke. Hinzu kommt, dass nun „sogar auch der Patient selbst auf seinem Handy verfolgen kann, wie die Frakturheilung voranschreitet“, erklärte der Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Münster.

„Bei der Bewertung der Frakturheilung müssen wir uns bisher auf die eigene Erfahrung, die Befragung des Patienten sowie die Bildgebung stützen. Was direkt am Knochen passiert, solche Daten konnten wir bisher nicht messen“, erklärte Raschke. Dass man nun exakte Messungen am Knochen durchführen kann, „ermöglicht uns auch eine Neuorientierung bezüglich dessen, was wir bisher als Ärzte bewirken konnten“, so Raschke weiter. So könnten Ärzte und Ärztinnen nun leichter Rückschlüsse ziehen, wie etwa Rehabilitationsmaßnahmen wirken. Diese Daten ermöglichten es wiederum früh Interventionen zur Verbesserung des Heilungsprozesses anzuordnen, was die Behandlungszeit und die Kosten reduziert.

Kongresspräsident Michael J. Raschke stellte auf dem DKOU innovative Entwicklungen in O&U vor und warnte vor einer Überregulierung des Marktes, die solche Innovationen verhindern könnten. (Foto: hr, Biermann Medizin)

Die prospektive Studie zum Fracture-Monitor-System, die im Frühjahr 2022 in Europa startet und an der auch 15 Zentren in Deutschland beteiligt sein werden, wird ein halbes Jahr lang die Daten in der Klinik sammeln und auswerten. „Wir werden darüber zu ganz neuen Ergebnissen und Erkenntnissen gelangen und versprechen uns davon neue Wege in der Frakturversorgung“, ist Raschke überzeugt.

Die neuen Implantate sind vor allem für „Problem“-Patientinnen und -Patienten mit schwieriger oder gestörter Frakturheilung gedacht. Laut Raschke gehören dazu etwa ältere Menschen mit einer bereits bestehenden Knie- und Hüftprothesenversorgung, bei denen oft zusätzlich eine Oberschenkelfraktur auftritt. Auch wenn diese Patientengruppe nicht zwingend das Monitoring auf dem Handy selbst verfolge, könne er diese Daten bequem an das Ärzteteam weiterleiten oder sie dem Arzt vor Ort zeigen. Der Arzt wiederum könne so den Heilungsfortschritt besser vermitteln, wie sich etwa der Einsatz von Medikamenten oder eine Teil- oder Vollbelastung auf den Knochen auswirken.

Etwa jeder zehnte Patient oder jede zehnte Patientin mit Knochenbrüchen leidet unter einer gestörten Knochenheilung. Genau hier sieht der DKOU-Präsident mittels der innovativen Technik für die Zukunft deutliche Verbesserungen für die Patienten und Patientinnen, da nun rechtzeitig auf den Heilungsprozess Einfluss genommen werden kann. „Aus Science-Fiction-Technik wird Therapie-Realität“, so Raschkes Fazit zur Echtzeitinformation über die Knochenheilung.

„In fünf bis zehn Jahren wird ein 3-D-Drucker neben jedem OP-Tisch stehen

Eine weitere Entwicklung bewertet Raschke, der zugleich stellvertretender Präsident der DGOU ist, als zukunftsweisend: die Herstellung patientenindividueller Implantate mittels 3-D-Technik, die im Bereich der Traumatologie noch nicht abgeschlossen sei. „In fünf bis zehn Jahren wird ein 3-D-Drucker neben jedem OP-Tisch stehen. Dann erstellt der 3-D-Drucker individuelle Platten bei komplizierten Frakturen“, zeigte sich Raschke überzeugt. Der Experte vermutet, dass in naher Zukunft bei Frakturen, die bei der Computertomographie zu sehen sind, mit Augmented Reality gearbeitet wird. Dabei wird eine Platte virtuell am Bildschirm perfekt angepasst und diese Informationen werden direkt „per Knopfdruck“ an den 3-D-Drucker gesendet.

„Das hört sich teuer an und ist es zunächst bestimmt auch, hat aber dennoch auch einen finanziellen Vorteil“, so Raschke. „Wenn wir zukünftig die Knie- und Hüftgelenke sowie Platten passgenau aus dem 3-D-Drucker erhalten, brauchen wir keine teure Vorhaltung unterschiedlichster Implantate in unseren Lagern mehr.“ Neben den derzeit hohen Kosten sah der Kongresspräsident noch eine weitere Herausforderung bei der 3-D-Produktion: Die Fertigung beansprucht aktuell mindestens zwei bis – bei Spezialhüftgelenken –  sechs Wochen.

Innovationsstandort Deutschland durch Überregulierung in Gefahr

Insgesamt beurteilte Raschke Deutschland als zweitgrößten Medizintechnikhersteller der Welt als einen überragenden Standort für Neuentwicklungen: „Bei Innovationen in der Orthopädie und Unfallchirurgie ist Deutschland spitze.“ Beunruhigend sind Raschke zufolge aber die zunehmenden Hemmnisse für neue Entwicklungen und deren Umsetzung durch gestiegene gesetzliche Vorgaben: „Regularien schützen Menschen. Eine Überregulierungswut wie durch die neue Medical Device Regulation gefährdet aber den Innovationsstandort Deutschland. Wir verlassen den richtigen Weg dazwischen“, so Raschke. Die Folge sei, dass viele Innovationen zuerst in Ländern wie der USA umgesetzt würden und dass sich Innovationen bis zur Marktreife meist nur noch große Firmen leisten könnten, während die kleinen auf der Strecke blieben.

So stört Raschke etwa, dass Produktionsrichtlinien bei der Verpackung oder Langzeittests auch bei kleinen Änderungen, wie einem neuen Design, hohe Kosten verursachen: „Kleine Optimierungen ziehen teure Langzeittests nach sich. Das ist übertrieben. Ein Autohersteller muss auch keine neuen Crashtests durchführen, nur weil das Handschuhfach größer wird.“ (hr)