„Ein Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber“

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. Februar 2020 hat das bisherige Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) als verfassungswidrig aufgehoben. (Foto: ©Jürgen Fälchle – stock.adobe.com)

Im Februar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht das bisherige Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) formuliert nun Vorschläge zu gesetzlichen Regelungen, die den Schutzbedürfnissen insbesondere von psychisch erkrankten Menschen gerecht werden sollen.

„Die Sterbehilfevereine und Sterbehilfegeschäftemacher frohlocken jetzt und machen ihr altes Spiel weiter“, meint Dr. Michael Wunder, Psychologe und langjähriges Mitglied des Deutschen Ethikrats. Doch die Karlsruher Entscheidung lässt sich laut Wunder auch anders interpretieren: „Das Urteil öffnet zwar die Türe weit und bedient sich leider in seiner Sprache teilweise der Rhetorik der Sterbehilfevereine (es spricht z.B. von ‚Suizidwilligen‘). Es betont aber auch, dass der hohe Verfassungsrang des Lebensschutzes rechtfertigt, gefährlichen Formen der Suizidbeihilfe zum Schutz des Lebens auch mit Mitteln des Strafrechts entgegenzuwirken.“

Insofern bewertet Wunder, der die aktuelle Diskussion zum Thema innerhalb der DGSP eng begleitet hat, das Urteil „als Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, die Genehmigung von Suizidbeihilfehandlungen an gesetzlich festgelegte und überprüfbare Kriterien zu binden, wie die Überprüfung der Freiverantwortlichkeit durch Gutachter, eine obligatorische multiprofessionelle Beratung und die Zustimmung einer Ethikkommission.“

Um den anstehenden Ausgestaltungsprozess zu unterstützen, formuliert die DGSP in einer Stellungnahme Empfehlungen an den Gesetzgeber, die insbesondere die Situation psychisch erkrankter Menschen berücksichtigen.

Multiprofessionelles Begutachtungsverfahren

So gibt die DGSP zu bedenken, dass bei Menschen mit psychischen Erkrankungen eine laut Urteil erforderliche freie Willens- und Entscheidungsfindung krankheitsbedingt in vielen Fällen zeitweise nicht möglich ist. Insofern brauche es für die Begutachtung der freien Willensbildung ein umfassendes Begutachtungsverfahren durch ein multiprofessionelles Gremium mit mindestens zwei unabhängigen Psychiatern sowie Vertretern weiterer Disziplinen, z. B. aus Psychologie, Sozialer Arbeit, Pflege oder Theologie. Auch Menschen mit eigener Psychiatrieerfahrung sollten in die Begutachtung miteinbezogen werden. Die DGSP empfiehlt weiterhin, in den Begutachtungsprozess ergänzende und umfassende Beratungsangebote einzubeziehen, z .B. Schuldner-, Erziehungs- oder Suchtberatung. Die Beratung müsse eine lebenserhaltende Orientierung haben, adäquate Möglichkeiten der Hilfe deutlich machen und gegebenenfalls organisieren.

Angemessene Frist bei Entscheidungsfindung

Da viele psychische Erkrankungen zyklisch verlaufen, sei eine angemessene Wartezeit bei der Entscheidungsfindung wichtig, damit Betroffene Gelegenheit und Zeit haben, ihre Entscheidung zu überprüfen.

Ausbau umfassender und kompetenter Beratungs- und Präventionsangebote

Die von 1980 bis 2018 um circa 50 Prozent gesunkene Suizidrate ist laut Einschätzung der DGSP auch auf den Zuwachs an Beratungs- und Suizidprophylaxe-Angeboten zurückzuführen. Deshalb müsse diese Strategie dringend weiterverfolgt werden. Angebote sollten flächendeckend und leicht zugänglich vor allem dort weiter auf- und ausgebaut werden, wo Menschen in Umbruchsituationen anzutreffen sind, z. B. im Medizinbereich, in Pflegeeinrichtungen, in der Schule, Jugendhilfe oder Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch die in diesen Bereichen angebotene Beratung habe sich am Lebenserhalt zu orientieren und müsse Alternativen zur Selbsttötung aufzeigen.

Keine Pflicht zur Selbsttötung

Es müsse sichergestellt werden, dass weder Angehörige noch medizinisches oder anderes Personal dazu verpflichtet werden können, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten. Für Angehörige psychisch erkrankter Menschen seien Beratungsangebote vorzuhalten und auszubauen, da sie straffrei Hilfe zur Selbsttötung gewähren dürfen und hierdurch in höchst belastende Entscheidungs- und Gewissenskonflikte geraten können.

Dokumentation und Evaluation

Hilfen zur Tötung, die Gründe für einen Suizidwunsch und der Beratungsprozess seien umfassend zu dokumentieren und zu evaluieren. Die Ergebnisse sind laut DGSP in die politische Berichterstattung einzubeziehen. So könnten mögliche strukturelle Mängel erkannt und geeignete Maßnahmen ergriffen werden.

Grenzen der Hilfen zur Selbsttötung

Die DGSP spricht sich für ein generelles Verbot der Hilfe zur Selbsttötung bei Kindern und Jugendlichen aus. In der Alten- und Pflegehilfe fordert sie ein Verbot von Beratungsangeboten zur Wahrnehmung des Rechts auf Selbsttötung. Stattdessen bedürfe es eines Ausbaus und einer Intensivierung der Palliativpflege und kompetenten und würdevollen Begleitung im Sterbeprozess. Auch Werbung für Hilfe zur Selbsttötung sei zu verbieten und müsse bei Verstößen geahndet werden.

Gesellschaftliche Wertedebatte

Die DGSP sieht es als wichtige gesellschaftliche Aufgabe, das Urteil und die hiermit verbundenen Folgen auch vor der dem Hintergrund der in unserer Gesellschaft verbreiteten Leistungsorientierung und ökonomischen Zwänge zu diskutieren. Nach Einschätzung des Verbands trügen die beschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen insbesondere bei psychisch erkrankten wie auch bei alten Menschen häufig zu einer Selbstwahrnehmung als „Belastung“ der Umwelt bei. Für diesen Personenkreis stelle das Urteil nun das Risiko dar, dass es den Wunsch zur Selbsttötung mit auslösen und festigen könne. Die DGSP fordert deshalb eine gesellschaftliche Wertedebatte, die Krankheit, Behinderung und den Sterbeprozess als Teil des Lebens thematisiert und gesellschaftliche Verantwortung für die „Schwächsten“ in unserer Gesellschaft einfordert.