Ein neuer Weg zu Extremereignissen wie epileptischen Anfällen und Klimawandel

Viele Systeme sind in Netzwerken organisiert – darunter auch das Gehirn. (Foto: © Антон Сальников – stock.adobe.com)

Das globale Klima ist in einer Schieflage. Potenztielle „Kipppunkte“ sind etwa das grönländische Eisschild, Korallenriffe oder der Amazonas. Zusammen bilden sie ein Netzwerk, das einstürzen kann, wenn nur eine einzelne Komponente kippt. Solche scheinbar plötzlich auftretenden, oft unumkehrbaren Veränderungen innerhalb eines Systems können auch im menschlichen Gehirn beobachtet werden und wurden nun von Bonner Forschenden beleuchtet.

Unerwartete und oft unumkehrbare Veränderungen des Zustands oder der Dynamik eines komplexen Systems führen oft zu extremen Ereignissen mit wahrscheinlich katastrophalen Auswirkungen auf das System und seine Umwelt. „Das Verständnis und die mögliche Vorhersage solcher kritischen Übergänge sind daher von größter Bedeutung. Die bisher erzielten eher bescheidenen Erkenntnisse sind möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die bisherigen Forschungsansätze nur selten die komplizierten, zeitabhängigen Wechselwirkungen zwischen den Teilsystemen, die das den kritischen Übergängen zugrundeliegende Verhalten wesentlich bestimmen können, berücksichtigen“, erklärt Korrespondenzautor Prof. Klaus Lehnertz, Arbeitsgruppenleiter der Neurophysik an der Klinik für Epileptologie des UKB, der auch am Interdisziplinären Zentrum für komplexe Systeme der Universität Bonn forscht.

Wechselwirkungen in sich zeitlich entwickelnden Kipp-Subnetzwerken

Im Gegensatz zu bisherigen Methoden, die entweder einzelne Systemelemente oder das Gesamtsystem in den Fokus der Untersuchung stellen, konzentrierten sich die Bonner Forschenden daher in ihrer Arbeit auf eine Zwischenebene – und identifizierten dabei eine strukturell und zeitlich zusammenhängende Teilstruktur in einem Netzwerk, das sogenannte „tipping subnetwork“. Das ist ein Teilnetzwerk innerhalb eines größeren, sich zeitlich ändernden Netzwerkes, in dem die Elemente kollektiv eine Kipppunkt erreichen können. Zwar können einzelne Knoten und Verbindungen stabil sein, doch durch ihre Vernetzung mit anderen Elementen kann schon ein kleiner äußerer Schock oder ein allmählicher Wandel dazu führen, dass mehrere Knoten und Verbindungen gleichzeitig kippen.

Denn in einem „tipping subnetwork“ sind die Elemente über Rückkopplungen miteinander verbunden. Ein „kippender Knoten“ oder eine „kippende Verbindung“ kann also den Druck auf andere erhöhen, was zum „Kippen“ des ganzen Subnetzwerks führt. „Das kippende Teilnetzwerk zeigt dabei eine besondere zeitliche Starrheit und Abgeschlossenheit gegenüber dem Gesamtnetzwerk – Eigenschaften, die das System offenbar besonders anfällig für extreme Zustandsänderungen macht“, erklärt Erstautor Timo Bröhl, Doktorand der Universität Bonn und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe von Lehnertz am UKB.

Solche Teilnetzwerke konnten die Bonner Forschenden sowohl in Simulationsmodellen als auch in der Hirnaktivität von Personen mit Epilepsie vor epileptischen Anfällen erstmalig nachweisen. Die Änderung der Einbindung dieser Netzwerkbausteine in das funktionelle Netzwerk untersuchten sie mittels lokaler Netzwerkmaße, die auf dem Konzept der Zentralität basieren. Zentralitätsmaße zielen darauf ab, die Wichtigkeit von Netzwerkbausteinen aus verschieden Perspektiven zu erfassen, um so eine ganzheitliche Einordnung bezüglich deren Einbindung in das Netzwerk zu erlauben. „Diese Systeme können wiederholt kritische Übergänge durchlaufen, die zu extremen Ereignissen führen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Kipp-Subnetzwerke Schlüsseleigenschaften von Mechanismen erfassen, die an kritischen Übergängen beteiligt sind“, sagt Bröhl. Dabei lässt sich aus Änderungen dieser Einbindung in das funktionelle Netzwerk wichtige Informationen zu bevorstehenden Extremereignissen gewinnen.

Brücke zwischen Theorie und Praxis

„Unsere Arbeit schlägt eine Brücke zwischen theoretischer Physik und klinischer Anwendung und leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung im Bereich komplexer Systeme und ihrer Dynamik, insbesondere in der Untersuchung von Extremereignissen und kritischen Übergängen“, erklärt Bröhl und Lehnertz ergänzt: „Unsere Methodik eröffnet neue Möglichkeiten zur Entwicklung mathematischer und physikalischer Modelle und Methoden zur frühzeitigen Erkennung kritischer Übergänge – mit potenziellen Anwendungen in Medizin, Klimaforschung und darüber hinaus.“