Eine Frage der Tentakel? Evolution der Schnecken in neuem Licht2. November 2021 Gelbe Viertentakel-Meeresschnecke Tylodina aus dem Mittelmeer. Foto: © Bastian Brenzinger/SNSB Vier statt nur zwei Tentakel am Kopf: Dieses Merkmal könnte eine der Grundlagen für die große Vielfalt an Schnecken sein. Forscher der SNSB und der University of Tokyo haben durch genetische Analysen herausgefunden, dass Schnecken vor 400 bis 300 Millionen Jahren begannen vier Tentakel anstatt zwei zu entwickeln – erdgeschichtlich kurz vor der evolutionären Explosion, nach der wiederum fast 40 Prozent aller heute lebenden Weichtierarten entstanden sind. Die Wissenschaftler veröffentlichten ihre Ergebnisse diese Woche in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“. In ihren Tentakeln sind alle Sinne versammelt: Schnecken riechen, schmecken, tasten oder sehen mit ihren Sinnesantennen. Rund die Hälfte aller Schnecken verfügen über zwei Tentakel. Die andere Hälfte, die sogenannten Euthyneura, besitzen vier. Bei ihnen sind beispielsweise Geruchs- und Geschmackssinn voneinander getrennt. Die heimische Garten-Schnirkelschnecke Cepaea hortensis mit zwei paar Fühlern. Foto: © Bastian Brenzinger/SNSB Artenforscher aus München und Tokio entdeckten nun sogenannte „Missing Links“ – fehlende Bindeglieder der Evolution – zwischen den beiden Schneckengruppen: Die Fühler am Kopf von winzigen Meeresschnecken-Arten der Gattungen Parvaplustrum und Tjaernoeia sind an deren Ende gabelartig gespalten. Die Nervenstränge in den Fühlern dieser Schnecken verlaufen an der Basis noch fast zusammen und spalten sich zum Ende hin auf. „Diese Form der Sinnestentakel war bisher unbekannt – Schnecken hatten sonst entweder ein paar Fühler oder zwei, aber kein Mittelding,“ erläutert Bastian Brenzinger, Schneckenforscher an der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) und Erstautor der Studie.Wissenschaftler der Zoologischen Staatssammlung München und der University of Tokyo haben viele Daten zu teils winzigen Meeres- und Landschnecken analysiert, um deren Entwicklungsgeschichte aufzudecken. Manche von ihnen sind nur wenige hundert Mikrometer lang, wie beispielsweise die Meeresschnecke Tjaernoeia exquisita mit rund einem halben Millimeter Körperlänge – eine der kleinsten lebenden Schneckenarten. Mithilfe von dreidimensionalen Rekonstruktionen machten die Schneckenforscher die Kopfanatomie sowie das zentrale Nervensystem der Tiere sichtbar.Eine ausführliche Diagnose von genetischen Daten der Schnecken ermöglichte den Experten neue Einblicke in die Vergangenheit und die Verwandtschaftsverhältnisse. Die genetischen Analysen haben im Vergleich mit den Körperbauplänen gezeigt, dass die neu entdeckten „Gabelfühlerschnecken“ ein sehr ursprünglicher Teil der Gruppe der „Vierfühlerschnecken“ sind. Denen gegenüber stehen alle übrigen „Zweifühlerschnecken“, die entwicklungsgeschichtlich älter sind. Die Forscher vermuten, dass der Erwerb der verbesserten Kopfsensoren im Meer des Paläozoikums stattgefunden hat. Gehalten hat sich das „Vierfühler“-Merkmal bis heute erfolgreich: augenscheinlich bei so gut wie allen in Deutschland vorkommenden Landschnecken, aber auch bei einem großen Teil der Wasserschnecken, insbesondere den Meeresnacktschnecken. Über dreißigtausend Schneckenarten haben diese Kopfform.„Eventuell sind die Veränderungen der Sensoren am Kopf ein bisher übersehenes Schlüsselereignis in der Evolutionsgeschichte der Schnecken. Sie könnte sogar mit der explosionsartigen Ausbreitung der Schnecken vor 320-220 Mio. Jahren in Zusammenhang stehen. Danach gab es eine enorme Steigerung in Vielfalt und Artenzahl“, deutet Bastian Brenzinger die Ergebnisse der Studie. Originalpublikation: Brenzinger, B., Schrödl, M. & Kano, Y. Origin and significance of two pairs of head tentacles in the radiation of euthyneuran sea slugs and land snails. Sci Rep 11, 21016 (2021). https://doi.org/10.1038/s41598-021-99172-5 Weitere Informationen: http://www.snsb.de – Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns (SNSB)http://www.zsm.mwn.de – Zoologische Staatssammlung München (SNSB-ZSM)
Mehr erfahren zu: "Tiergesundheit: Aktuelle EU-Umfrage zeigt Handlungsbedarf bei Aufklärung und Dialog" Tiergesundheit: Aktuelle EU-Umfrage zeigt Handlungsbedarf bei Aufklärung und Dialog Eine europaweit durchgeführte Umfrage im Auftrag von AnimalhealthEurope zeigt das große Vertrauen der Bevölkerung in tierärztliche Versorgung und Prävention – macht aber auch Informationsdefizite sichtbar, so der Bundesverband für Tiergesundheit […]
Mehr erfahren zu: "Zwei große Schritte zum aufrechten Gang des Menschen" Zwei große Schritte zum aufrechten Gang des Menschen Eine neue internationale Studie konnte nun die Schritte entschlüsseln, die das menschliche Becken im Laufe von Millionen von Jahren so veränderten, dass zweibeiniges Gehen möglich wurde.
Mehr erfahren zu: "Warum das Zwerg-Seepferdchen eine Stupsnase hat" Warum das Zwerg-Seepferdchen eine Stupsnase hat Eine deutsch-chinesische Forschungsgruppe hat das Genom des Zwerg-Seepferdchens sequenziert. Sie konnten dabei unter anderem Genverluste identifizieren, welche für die verkürzte Nase verantwortlich sind.