ESC 2023: Menschen mit seltenen kurzen Vorhofrhythmusstörungen profitieren nicht von Gerinnungshemmung

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Die auf dem diesjährigen ESC-Kongress in Amsterdam vorgestellte und im „New England Journal of Medicine“ publizierte klinische Studie NOAH-AFNET 6 zeigt: Bei Menschen mit atrialen Hochfrequenzepisoden, aber ohne im EKG dokumentiertes Vorhofflimmern, führt eine orale Antikoagulation zu Blutungen, ohne Schlaganfälle zu verhindern. Dabei war die Zahl der Schlaganfälle mit und ohne Blutverdünnung niedrig.

Atriale Hochfrequenzepisoden (AHRE) sind kurze und seltene Rhythmusstörungen, die durch implantierte Herzschrittmacher, Defibrillatoren oder Ereignisrekorder nachgewiesen werden. Bei 10 bis 30 Prozent aller Menschen mit implantierten Geräten werden AHRE gefunden. AHRE ähneln Vorhofflimmern. Deshalb wird Betroffenen von AHRE häufig eine Antikoagulation angeboten, auch ohne im EKG dokumentiertes Vorhofflimmern. Die Wirksamkeit und Sicherheit der Antikoagulation bei Menschen mit AHRE wurde bisher noch nie geprüft.

Die Studie NOAH-AFNET 6 (Non-vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High rate episodes) hat deswegen untersucht, ob bei Menschen mit AHRE eine gerinnungshemmende Behandlung Schlaganfälle, kardiovaskuläre Todesfälle und Embolien verhindert. In der internationalen Wissenschafts-initiierten klinischen Studie wurde bei Menschen ab 65 Jahren, die AHRE mit einer Dauer von mindestens sechs Minuten und mindestens einen zusätzlichen Schlaganfallrisikofaktor (Herzschwäche, Bluthochdruck, Diabetes, vorheriger Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke, Gefäßerkrankung oder Alter ab 75 Jahre) hatten, der Gerinnungshemmer Edoxaban mit einem Placebo (Scheinmedikament) verglichen. Dies liegt außerhalb der zugelassenen Indikation für Edoxaban.

Der wissenschaftliche Leiter der NOAH-AFNET-6-Studie Prof. Paulus Kirchhof, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Hamburg, erklärt den Hintergrund der Studie: „Ob Blutverdünner auch Menschen mit AHRE vor Schlaganfällen schützen, war bisher nicht bekannt. Obwohl AHRE dem Vorhofflimmern ähneln, zeigt die NOAH-AFNET-6-Studie, dass Menschen mit AHRE besser ohne Blutverdünner behandelt werden.“

Zwischen 2016 und 2022 wurden 2536 Patientinnen und Patienten in 206 Studienzentren in 18 Europäischen Ländern im Rahmen der NOAH-AFNET-6-Studie untersucht und behandelt. Die Teilnehmenden wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei gleich großen Gruppen zugeordnet, wobei eine Gruppe gerinnungshemmend behandelt wurde, die andere nicht. Personen in der Gerinnungshemmer-Gruppe erhielten Edoxaban in der für die Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern zugelassenen Dosis (60 mg einmal täglich bzw. 30 mg einmal täglich entsprechend den für eine Dosisreduktion bei Vorhofflimmern anerkannten Kriterien). Die andere Gruppe bekam ein Placebo. Dieses enthielt bei Menschen, die kein Aspirin benötigen, keinen Wirkstoff, oder Aspirin (100 mg täglich), wenn eine Indikation zur Blutplättchenhemmung bestand (3). Analysiert wurden die Daten aller aufgenommenen Patientinnen und Patienten (Durchschnittsalter 78 Jahre; 37% Frauen; medianer CHA2DS2-VASc-Score 4,0±1,3). Die mediane Dauer ihrer AHRE betrug 2,8 Stunden.

Nachdem die erforderliche Personenzahl in die Studie eingeschlossen war, zeichneten sich ein Trend zur Unwirksamkeit und erwartete Sicherheitsbedenken, insbesondere Blutungsereignisse, in der Antikoagulationsgruppe gegenüber der Placebogruppe ab. Daraufhin wurde im September 2022 der Entschluss gefasst, die Studie unter kontrollierten Bedingungen vorzeitig zu beenden.

Die Analyse der vollständigen Daten bestätigt nun: Schlaganfall, systemische Embolie oder kardiovaskulärer Tod trat bei 83 Personen der Antikoagulations-Gruppe und bei 101 Personen der Gruppe ohne Antikoagulation auf (Schlaganfall: 0,9% vs. 1,1% pro Jahr, systemische Embolie: 0,5% vs. 1,1% pro Jahr, kardiovaskulärer Tod: 2,0% vs. 2,2% pro Jahr). Das bedeutet, dass kein Unterschied zwischen beiden Behandlungsgruppen nachweisbar ist (Hazard Ratio [HR] 0,81; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,6–1,08; p=0,15).

Ein schweres Blutungsereignis oder der Tod ereignete sich bei 149 Teilnehmenden der Antikoagulations-Gruppe (5,9% pro Jahr) und bei 114 der Gruppe ohne Antikoagulation (4,5% pro Jahr), also häufiger bei den Menschen, die das gerinnungshemmende Medikament einnahmen (HR 1,3; 95%-KI 1,02–1,67; p=0,03). Schwere Blutungen traten in der Antikoagulationsgruppe doppelt so häufig auf wie ohne Gerinnungshemmung (2,1% vs. 1,0% pro Jahr). Dies ist eine bekannte Nebenwirkung von Gerinnungshemmern.

Kirchhof kommentiert: „Wie erwartet, führt die Gerinnungshemmung mit Edoxaban zu mehr Blutungen. Die niedrige Schlaganfallquote mit und ohne Gerinnungshemmung war unerwartet. Die Ergebnisse der NOAH-AFNET-6-Studie sprechen klar dafür, Vorhofflimmern zuerst im EKG zu bestätigen, bevor eine blutverdünnende Behandlung eingeleitet wird. Auch Smartwatches können seltene Rhythmusstörungen, die dem Vorhofflimmern ähnlich sind, feststellen. Um beurteilen zu können, ob in diesen Fällen eine Blutverdünnung nötig ist, bedarf es weiterer Studien.“

Prof. Andreas Götte, St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn, aus dem Leitungsgremium der Studie sagt abschließend: „Unsere Ergebnisse untermauern Daten aus anderen Studien, die bereits vermuten ließen, dass Gerinnungshemmer bei Patient:innen mit AHRE möglicherweise weniger wirksam Schlaganfälle verhindern als bisher angenommen. Weitere Forschung ist nötig, um herauszufinden, welche Patient:innen mit AHRE ein hohes Schlaganfallrisiko haben und wie sie am besten behandelt werden sollten.“

NOAH-AFNET 6 erhielt finanzielle Unterstützung von Daiichi Sankyo Europe und dem Deutschen Zentrum für Herz- Kreislauf-Forschung (DZHK). Sponsor der Wissenschafts-initiierten Studie ist das Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET).