EU-Antibiotikadebatte: Stellungnahme der Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen9. September 2021 Human- und Veterinärmedizin gemeinsam im Einsatz für gesunde Menschen, Tiere und eine intakte Umwelt: One health (Symbolfoto) Foto: © FotoshopTofs – pixabay.com Stellungnahme zur Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG und dem Delegierten Rechtsakt der EU-Kommission (Stand: 27. August 2021) Im Original-Wortlaut wiedergegeben: Hintergrund Das Auftreten von Resistenzen bakterieller Erreger gegen antimikrobiell wirksame Substanzen (AMR) wird weltweit als eines der wichtigsten gesundheitlichen Probleme in Human- und Tiermedizin angesehen. Dieses wurde sowohl von internationalen Organisationen wie WHO, OIE, oder FAO wie auch auf vielen nationalen Ebenen (z.B. Deutschland mit DART) festgestellt. Die Bekämpfung von AMR zum Erhalt der (tier-) ärztlichen Therapie von bakteriell verursachten Infektionserkrankungen ist daher eine weltweit erforderliche gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nach einhelliger Meinung der genannten Organisationen zwingend in einem One-Health-Ansatz zu behandeln ist. So befürwortet die WHO die Verwendung der CIA-Liste für den Einsatz beim Menschen in Verbindung mit der AVI-Liste der OIE anzuwenden, um einem One Health Ansatz gerecht zu werden. Die Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.Dezember 2018 ist am 27. Januar 2019 in Kraft getreten und gilt ab dem 28.Januar 2022. Ziel der Verordnung ist unter anderem eine Stärkung der EU im Kampf gegen AMR. Aufgrund der VO 2019/6 wurde die EMA von der Europäischen Kommission aufgefordert, Empfehlungen abzugeben, nach welchen Kriterien Antibiotika ausschließlich für die humanmedizinische Anwendung vorbehalten sein sollten. Die Empfehlungen wurden von der EMA am 31. Oktober 2019 an die Europäische Kommission gesendet und wurden in einem delegierten Rechtsakt (DEA 2021/2718) über “Criteria for the designation of antimicrobials to be reserved for the treatment of certain infections in humans” umgesetzt. Gegen diesen Vorschlag wurde ein Veto mit der Begründung eingelegt, dass die Hürde für die Klassifizierung “für Menschen reserviert” unangemessen hoch und der Spielraum bezüglich von Tiergesundheitsbedenken zu groß sei, um die Gesundheit des Menschen zu schützen. Teil des Einspruchs war auch die Forderung, die Gabe sogenannter “Reserveantibiotika” in der Tierhaltung zu verbieten. Ausgenommen sein sollten die Behandlung einzelner Tiere mit einer klinisch diagnostizierten schweren, lebensbedrohlichen Erkrankung, die bei unsachgemäßer Behandlung zu einer erheblichen Morbidität oder Mortalität führen würde. Zu dem letzten Punkt soll hier zusammengefasst werden, welche wissenschaftliche Evidenz zum Austausch von AMR zwischen Tier und Mensch in Deutschland bzw. zur Antibiotikaanwendung dieser Substanzen bei Tieren vorliegt: Epidemiologische Evidenz Aus One-Health-Perspektive können derzeit folgende wissenschaftliche Fakten (aus Monitoringprogrammen und speziellen Studien) zur AMR-Problematik subsummiert werden, die zeigen, dass es eine Vielzahl von Überlappungen von Resistenz in Human- und Tiermedizin gibt: (1) Die Anzahl der zugelassenen antibiotisch wirksamen Stoffe beträgt laut WHO mindestens 296 in der Humanmedizin (WHO 2018) bzw. laut OIE 124 in der Tiermedizin (OIE 2019). Von diesen Wirkstoffen sind in Deutschland insgesamt 22 Wirkstoffe in der Tiermedizin im Einsatz, die den Klassen der Fluorchinolone, Cephalosporine der 3. und 4. Generation, Polypeptide und Makrolide der WHO-CIA-Liste zugeordnet werden können. Von diesen 22 Wirkstoffen wiederum, sind in Deutschland fünf Wirkstoffe (Erythromycin, Spiramycin, Bacitracin, Polymyxin B und Colistin) in der gemeinsamen Nutzung von Human- und Tiermedizin. (2) Die Bewertungen einer durch das ECDC geförderten AMR-Arbeitsgruppe (Cassini et al., 2019) zeigen, dass 63,5% aller durch AMR verursachten Todesfälle und 75% der dadurch verlorenen Lebenszeit beim Menschen durch Verhaltensweisen in der humanen Krankenversorgung verursacht sind. Ein Modell aus den Niederlanden schätzt, dass die asymptomatische Besiedlung des Menschen mit besonderen, häufig vorkommenden multiresistenten Erregern (ESBL und AmpC bildende E. coli) in ca. 60% auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch zurückzuführen ist, wohingegen eine Übertragung von Lebensmitteln tierischen Ursprungs 17,8% und von Haustieren 7,9% ausmacht (Mughini-Gras et al., 2019). Eine finale Bewertung des Anteils transferierter AMR von Tier zu Mensch aber auch von Mensch zu Tier und zur interaktiven Bedeutung der Umwelt hierzu liegt derzeit nicht vor, da hierfür zudem zwingend nach spezifischen Erregern bzw. Wirkstoffen unterschieden werden muss (JIACRA-III). (3) Der Eintrag antimikrobieller Substanzen in die Umwelt durch Abwässer privater Haushalte, medizinischer Einrichtungen, Pflege- und Altenheimen sowie Tierhaltungen wurde beobachtet, dessen Auswirkung auf AMR beim Menschen bislang jedoch nicht ausreichend quantifiziert (Umweltbundesamt, 2018). (4) Für Deutschland zeigen die Untersuchungen zur 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes (zentrale Dokumentationspflicht für Landwirte, BMEL, 2019) zur DIMDI-Arzneimittelverordnung (zentrale Dokumentationspflicht für pharmazeutische Unternehmer, Wallmann et al., 2020) sowie wissenschaftliche Studie bei Landwirten und Tierärzten (Kasabova et al., 2021) (a) zwischen 2011 und 2019 eine Reduktion der an deutsche Tierärzte abgegebenen Antibiotikamenge um insgesamt rund 61% (davon Cephalosporine der 3. und 4. Generation –63%, Fluorchinolone –27%, Makrolide –68% und Polypeptide –48%) (b) eine Veränderung des tierärztlichen Therapieverhaltens zwischen 2013 und 2020, die je nach Wirkstoffklasse und Tierart sehr unterschiedlich ausfallen kann, z.B. bei (i) Cephalosporinen der 3. und 4. Generation: +5,9% bei Mastrindern, –21,7% bei Milchkühen (ii) Fluorchinolonen: –11,4% bei Broilern, +0,4% bei Läuferschweinen (iii) Makroliden: –7,2% bei Broilern, + 27,3% bei Ferkeln (iv) Polypeptiden: –13% bei Broilern, –8,6% bei Ferkeln. (5) In Deutschland wurde die TäHAV so geändert, dass durch eine strukturierte Einschränkung, der Einsatz von Cephalosporinen der 3. und 4. Generation sowie Fluorchinolonen nur noch in explizit begründeten Fällen möglich ist. Zusätzlich wurde eine Antibiogrammpflicht aufgenommen. Schlussfolgerungen Das nunmehr vorliegenden Veto zum Delegierten Rechtsakt berücksichtigt nach unserer Auffassung nicht ausreichend, dass bislang wenig gesicherte Evidenz darüber vorliegt, in welchem Umfang und für welche Wirkstoffe entsprechend restriktive Maßnahmen (Verbot von “Reserveantibiotika” in der Tierhaltung) eine populationsbezogene Auswirkung auf die AMR beim Menschen haben. Die Autoren, die im Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten und in der Nationale Forschungsplattform für Zoonosen organisiert sind, verweisen daher darauf, dass bereits wissenschaftliche Evidenz vorliegt, die zeigt, dass das Problem AMR sich nur in einem One-Health-Ansatz lösen lässt, da vielfältige Interaktionen zwischen der mikrobiellen Besiedlung von Tieren, Menschen und ihrer Umwelt vorliegen. Aus diesem Grund befürworten wir den weitgehenden Verzicht auf den Einsatz für die Humanmedizin besonders wichtiger Substanzen bei Tieren und Maßnahmen, die geeignet sind, diesen Einsatz einzuschränken. Jedoch fehlt bisher Evidenz dafür, ob ein pauschales Verbot des Einsatzes von Arzneimitteln mit den Wirkstoffgruppen Fluorchinolone, Cephalosporine der 3. und 4. Generation, Polypeptide sowie Makrolide bei Tieren das Vorkommen von Resistenzen in der Humanmedizin substantiell und nachhaltig beeinflussen würde. Autoren der Stellungnahme Die Arbeitsgruppen und Forschungsverbünde zum Thema AMR im Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten (https://www.zoonosen.net/forschungsnetz). Ansprechpartner für Rückfragen Prof. Dr. Lothar Kreienbrock Kontakt via Dr. Ilia Semmler ([email protected]) Verwendete AbkürzungenAMR Antimicrobial ResistanceAVI Antimicrobials of Veterinary ImportanceCIA Critically Important AntimicrobialsDART Deutsche Antibiotikaresistenz StrategieECDC European Centre for Disease Prevention and Control (ECCDCEMA European Medicines AgencyFAO Food and Agriculture OrganizationOIE World Organisation for Animal HealthTäHAV Tierärztliche HausapothekenverordnungWHO World Health Organisation Zitierte Literatur und informative Links Anonymous (2013): Sechzehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BundesgesetzblattJahrgang 2013 Teil I Nr. 62.Bonn. Available from: www.bundesanzeiger-verlag.de www.bundesgesetzblatt.de; download: 12.08.2021Anonymous (2018): Verordnung über tierärztliche Hausapotheken in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Juli 2009 (BGBl. I S. 1760), die durch Artikel 1 der Verordnung vom 21. Februar2018 (BGBl. 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Deutsches Tierärzteblatt, –920-925Mughini-Gras L, Dorado-García A, van Duijkeren E, van den Bunt G, Dierikx CM, Bonten MJM.Bootsma MCJ, Schmitt H, Hald T, Evers EG, de Koeijer A, van Pelt W, Franz E, Mevius DJ, Heederik DJJ, ESBL Attribution Consortium (2019): Attributable sources of community-acquired carriage of Escherichia coli containing β-lactam antibiotic resistance genes: a population-basedmodelling study. Lancet Planet Health 2019; 3: e357–69.OIE. List of Antimicrobial Agents of Veterinary Importance 2019 Available from:https://www.oie.int/fileadmin/Home/eng/Our_scientific_expertise/docs/pdf/AMR/A_OIE_List_antimicrobials_May2018.pdfUmweltbundesamt (2018): Antibiotics and Antibiotic Resistances in the Environment Background,Challenges and Options for Action. ISSN 2363-829XWallmann J, Bode C, Köper L, Heberer T (2020): Abgabemengenerfassung von Antibiotika in Deutschland 2019. Deutsches Tierärzteblatt, 1102 – 1109WHO. 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