„Evidenz statt Aktionismus“ – Netzwerk EbM übt deutliche Kritik an den Plänen für geplantes Bundesinstitut

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Unabhängig und wissenschaftlich sollte das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) nach Ansicht des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM) arbeiten. Dass die dazu vorgelegten Pläne diesen Ansprüchen bislang nicht genügen, erläutert das Netzwerk in einer aktuellen Stellungnahme.

Bereits im Koalitionsvertrag war ein Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit vereinbart worden, um „die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Ge­sundheitskommunikation des Bundes“ zu bündeln. Nun hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verlautbaren lassen, dass ab 2024 ein „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) sich um „die Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen (Krebs, Demenz, KHK) kümmern soll“. Was dies konkret bedeuten könnte, geht aus einem Impulspapier hervor, in dem vier Handlungsfelder zur Vermeidung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen abgesteckt werden. Diese umfassen unter anderem mehr Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Durch Einbindung der Apotheken sollen diese Angebote niedrigschwellig verfügbar sein. Das noch zu gründende BIPAM soll dies alles mit Informationsmaterialien begleiten.

Aus Sicht des EbM-Netzwerks gehen die aktuellen Pläne des BMG konzeptionell in eine falsche Richtung und widersprechen der vom EbM-Netzwerk geforderten evidenzbasierten Gesundheitspolitik.

Überholter Präventionsansatz

Inhaltlich beruhe der Gesamtansatz des BMG ganz auf medizin-naher Verhaltensprävention statt auf bürger-naher Verhältnisprävention, moniert das Netzwerk. „Dabei gilt es als wissenschaftlich gesichert, dass Präventionsprogramme, die das Verhalten der individuellen Bürger*innen ändern wollen, wenig wirksam sind und einen starken sozialen Gradienten aufweisen: Diejenigen, die an individuellen Präventionsmaßnahmen teilnehmen, brauchen diese meist am allerwenigsten“, heißt es in der Stellungnahme. Besser wäre es, so das EbM-Netzwerk, die Ressourcen in die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu investieren, um den Graben zwischen privilegierten und wenig privilegierten Menschen zu verringern. Gesundheit werde nicht allein von dem individuellen Verhalten und der Gesundheitsversorgung bestimmt. Die EbM-Expertinnen und -Experten plädieren daher dafür, dass das BIPAM auch Kompetenzen in Bereichen wie Soziologie, Bildung, Pflege, Psychologie, Umwelt, Städte- und Verkehrsplanung erhält. Die Kopplung von Prävention und Medizin im Institutsnamen BIPAM und der von Minister Lauterbach verwendete Begriff „Vorbeugemedizin“ würden von einem nicht mehr zeitgemäßen Präventionsansatz zeugen.

Zweifel an adäquater Aufklärung und informierter Entscheidung

Auch hält das EbM-Netzwerk es für fragwürdig, wie in einem solch breit aufgestelltem Präventionsprogramm adäquate Beratung und Aufklärung gewährleistet werden könnten. Vor zehn Jahren wurde im Patienten­rechtegesetz festgeschrieben, dass auch vor Früherkennungsmaßnahmen transparent, vollständig und verständlich über persönliches Risiko, über möglichen Nutzen und Schaden und über Unsicherheiten informiert werden muss. Die jetzige Planung gemäß BMG-Impulspapier umfasst „multimodale Ansprache“, Informationsmaterialien des BIPAM und niedrigschwellige Angebote in Apotheken. Darum fürchtet das Netzwerk, dass die Evidenzbasierung in der individuellen Information und Beratung wenig Stellenwert erhalten werden. „Alles klingt nach bundesweiten Kampagnen, die das Ziel haben, die Teilnahmeraten zu erhöhen – statt dem Anspruch an informierte Entscheidungen gerecht zu werden“, wird in der Stellungnahme kritisiert.

Public Health braucht politische Unabhängigkeit

Weiterhin hält das Netzwerk EbM es für organisatorisch problematisch, das BIPAM als Bundesbehörde direkt an das BMG anzubinden. „Wenn das BIPAM dem BMG weisungsgebunden untersteht, ist davon auszu­gehen, dass politisch opportune, aber wissenschaftlich fragliche Maßnahmen gegenüber politisch unbequemen, aber inhaltlich richtigen Vorschlägen bevorzugt werden. Die auch von Minister Lauterbach immer wieder als wichtig bezeichnete Evidenzbasierung wäre gefährdet. Das EbM-Netzwerk hat wiederholt die politische Abhängigkeit von Bundesinstituten wie dem RKI und der BZgA beklagt. Auch hat sich das EbM-Netzwerk für ein unabhängiges Nationales Gesundheitsportal eingesetzt. Dass dieses nun in einem eigenen Referat des BMG verankert ist, hat bereits zu Einbußen hinsichtlich Qualität und Transparenz der Gesundheits­informationen geführt. Es wäre daher wichtig, dem BIPAM ausreichende Unabhängigkeit zu gewähren“, betont der Verein mit ca. 1000 Mitgliedern, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Fächer, Professionen, Sektoren und Organisationen zusammenstellen.

Handeln ohne Evidenz

Bereits jetzt lässt sich dem Netzwerk zufolge erahnen, wie sich eine fehlende Evidenzbasierung in der Prävention in Deutschland auswirken wird. Mit den geplanten Früherkennungs­maßnahmen zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen laufe man Gefahr, die „Medikalisierung der Ge­sellschaft“ zu verstärken, ohne das Ziel der Verbesserung der Gesundheit und einer Verlängerung des Lebens der Menschen zu erreichen.

Das BMG hat mit dem Cholesterin- und Diabetes-Screening gleich zwei Gesundheits­leistungen angekündigt, die das Netzwerk EbM als „wissenschaftlich mehr als fragwürdig“ ansieht. Es verweist auf eine randomisierte Studie aus Dänemark, in der sich selbst eine umfang­reiche Gesundheitsuntersuchung mit Erfassung von Lebensstil, Familienanamnese, EKG, Blutdruck- und Lipidwerten, psychosozialen und weiteren Risikofaktoren bei Menschen zwischen 30 und 60 Jahren als nicht wirksam zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erwies. Maßnahmen zur Früh­erkennung müssen den lang bewährten Wilson-Jungner-Prinzipien entsprechen und Nutzen und Schaden müssen in geeigneten Studien untersucht werden, betont der Verein.

Die U.S. Preventive Services Task Force – eine offizielle und von der Regierung unabhängig arbeitende Stelle in den USA – bewertete 2023 die Datenlage zum Lipid-Screening bei Kindern und Jugendlichen als unzureichend. Erhöhte Cholesterin-Werte sollen laut US-Empfehlungen frühestens ab einem Alter von 40 behandelt werden. Und ein Diabetes-Screening wird in den USA nur bei Erwachsenen angeraten, die älter als 34 und übergewichtig sind. Will man Früherkennungsmaßnahmen einführen, zu denen es bisher keine aussagekräftigen Studien gibt, so sollte dies nach Ansicht des EbM-Netzwerks zunächst nur temporär im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation erfolgen. Dass das BIPAM auch die Möglichkeit zur „Unterstützung von Studien“ erhalten soll, sei zu begrüßen. Allerdings würden die weiteren vom BMG gewählten Begriffe eher auf „epidemiologische Studien“ und die wachsende Rolle der „Modellierer im Gesundheitswesen“ hindeuten, was kaum noch auf valide Evaluation hinweise. Denn hierfür wären randomisiert kontrollierte Studien (RCTs) das notwendige Werkzeug, um schließlich evidenzbasierte Empfehlungen treffen zu können.

Geltendes Recht verlangt systematische Evidenzbewertung

Als Grundprinzip ist im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) gefordert, dass medizinische Leistungen „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen“ haben. Dies gilt auch für Früherkennungsleistungen, die neu in die Versorgung eingeführt werden sollen. „Die BMG-Initiative zur Einführung von zusätzlichen Screeningtests kommt dagegen anscheinend ohne transparente wissenschaftliche Begründung und ohne systematische Evidenzbewertung aus. Wenn dies Auftrag und Arbeitsweise des BIPAM werden sollen, droht eine zielgruppengerechte Prävention auf der Basis informierter Entscheidungen konterkariert zu werden“, so die deutliche Kritik.

Evaluation generell notwendig

Das BMG plant die Einführung umfassender Maßnahmen im Bereich Prävention und Früh­erkennung, mit dem Ziel Kosten im Gesundheitswesen zu senken und die Lebenserwartung der Bevölkerung zu erhöhen. Das Netzwerk EbM fürchtet hingegen, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen tief in die Strukturen und das Leistungsgeschehen in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung eingreift und Kosten generieren wird. „Die Tragweite dieser Maßnahmen verlangt eine begleitende Evaluation mit aussagekräftigen Studiendesigns, um zu prüfen, ob mit den Maßnahmen die angestrebten Ziele für die Gesundheit der Bevölkerung erreicht werden und wie sich Kosten und Nutzen zueinander verhalten. Auch mögliche negative Auswirkungen, z. B. im Sinne einer Über- oder Fehlversorgung oder eines fortbestehenden sozioökonomischen Gradienten, sind zu erfassen, sodass rechtzeitig Richtungskorrekturen vorgenommen werden können“, heißt es abschließend in der Stellungnahme.