Forscher weisen HERV-W-Virus als Neuropathogen bei MS nach

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In Zusammenarbeit mit Kollegen aus Zürich, Bern und Lyon haben Düsseldorfer Wissenschaftler einen wichtigen Fortschritt beim Verständnis des komplexen Erkrankungsmechanismus bei Multipler Sklerose erzielt. Die Forschenden konnten einen direkten funktionalen Zusammenhang zwischen der Ausschüttung eines endogenen Retrovirus und der Verschlechterung von neurodegenerativen Prozessen beschreiben.

Für die Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) sind mittlerweile zahlreiche Therapien verfügbar, die sich aber fast ausschließlich gegen das Auftreten aggressiver Immunzellen richten. Das Fortschreiten der Krankheit (Progression), wodurch es letztendlich zu irreversiblen Defiziten kommt, kann bislang aber nicht adressiert werden. MS ist nach wie vor nicht heilbar.

Das endogene Retrovirus HERV-W wurde vor mehr als 30 Jahren aus Gewebe von MS-Patienten isoliert. Seine Rolle im Krankheitsprozess ist seitdem Gegenstand intensiver Forschung. Bei dem Retrovirus handelt es sich um ein in unserem Genom eingebautes Virus, welches unsere Vorfahren vor Millionen von Jahren aufgenommen haben. Interessanterweise scheint dieses Element erfolgreich stillgelegt worden zu sein, wird aber in wenigen pathologischen Situationen, und dazu gehört die MS, aktiviert.

Der initiale Verdacht, dass HERV-W als Pathogen wirkt, konnte bislang nur über Zellkulturen erbracht werden, da es sich um ein ausschließlich menschliches Virus handelt. Frühere Studien des Düsseldorfer Teams um Prof. Patrick Küry konnten durch solche Ex-vivo-Studien einen möglichen Einfluss von HERV-W auf die Degeneration des Nervengewebes und eine Reduktion des natürlicherweise bereits stark eingeschränkten Regenerationsverhalten zeigen – zwei Prozesse die zur Zeit therapeutisch nicht angegangen werden können.

Die aktuellen Befunde des Teams um Küry resultierten aus der Verwendung eines neuen Mausmodells, welches das Auftreten von HERV-W im zentralen Nervensystem (ZNS) künstlich nachvollzieht.

Die Wissenschaftler konnten nun eindeutig zeigen, dass diese virale Entität tatsächlich auch in vivo an wichtigen MS-Teilprozessen beteiligt ist: Eine Schädigung der weißen Substanz und eine Schwächung der im erkrankten ZNS bereits stark verminderten Regenerationsfähigkeit.

Darüber hinaus konnte das Auftreten von aggressiven Mikrogliazellen bestätigt werden und zudem überraschenderweise auch die Generierung von neurotoxischen Astrozyten gezeigt werden.

„Die Präsenz des HERV-W-Virus im Gehirn von MS-Patienten scheint ein toxisches Umfeld zu generieren. Ob dadurch diese Krankheit sogar ausgelöst werden kann, kann aus diesen Daten nicht abgeleitet werden, da sich dafür das verwendete Modell nicht eignet. Dass aber Zerfallsprozesse verstärkt und darüber hinaus empfindliche Heilungsprozesse gestört werden, konnte nun eindeutig und zum ersten Mal nachgewiesen werden”, erklärte der Erstautor der Studie, Joel Gruchot.

Parallel zur wissenschaftlichen Aufklärung des Schädigungsmechanismus werden auch klinisch-therapeutische Entwicklungen, die HERV-W bei MS-Patienten neutralisieren können, vorangetrieben. Nach zwei erfolgreichen klinischen Studien mit einem neutralisierenden Antikörper namens Temelimab können die Düsseldorfer Forscher und ihre Kollegen über die neuen Befunde nun erklären, weshalb die Neurodegeneration bei den mit Temelimab behandelten MS-Patienten tatsächlich abnahm: Der Antikörper scheint das „toxische“ Hüllprotein von HERV-W zu blockieren und somit seine Aktivität im ZNS und die neurotoxische Aktivierung von Mikroglia und Astrozyten zu verhindern.