Forschung: Neue Einblicke in die Grundprinzipien der Augenentwicklung

Der Meereswingelwurm Platynereis dumerilii. Bild eines Weibchens.Foto:©Florian Raible

Eine internationales Forschungsteam hat ein lichtreguliertes Stammzellsystem, das das lebenslange Wachstum der Augen bei Meeresringelwürmern steuert, entdeckt.

Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht. Die Erkenntnisse der Arbeit bieten neue Einblicke in die Grundprinzipien der Augenentwicklung und die Rolle des Lichts bei der Formung des erwachsenen Nervensystems – selbst bei Organismen, die oft als eher einfach angesehen werden.

Wenn man sich Lebewesen mit komplexen Augen vorstellt, denken die meisten Menschen an Säugetiere, Vögel oder vielleicht Tintenfische. Doch auch Ringelwürmer aus dem Meer – wie beispielsweise der Borstenwurm Platynereis dumerilii – haben Augen, die ähnlich wie die von Wirbeltieren und Kopffüßern aufgebaut sind. Diese „Kameraaugen“ ermöglichen mitunter eine überraschend hohe Sehschärfe. Ein internationales Team der Universität Wien, Österreich, des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven und der Universität Oldenburg hat erforscht, wie die Augen dieser wirbellosen Tiere lebenslang wachsen. Dabei haben die Wissenschaftler faszinierende neue Erkenntnisse gewonnen.

Verschiedene Augen, gleiche Prinzipien

Kameraähnliche Augen bei wirbellosen Tieren und Wirbeltieren sind klassische Beispiele für die parallele Evolution. Das bedeutet, sie entstanden vermutlich unabhängig voneinander als ähnliche Lösungen für dieselbe biologische Herausforderung.

Das Team untersuchte die Augen ausgewachsener Platynereis-Würmer. Dieses Modellsystems wird seit langem zur Erforschung der Grundprinzipien der Photorezeptorfunktion und der Gehirnentwicklung verwendet.

Die Analysen aus der Einzelzell-RNA-Sequenzierung von Erstautorin Nadja Milivojev vom Institut für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie der Universität Wien enthüllten eine ausgeprägte Zone am Rand der Netzhaut. Diese ist dicht mit neuralen Stammzellen besetzt, die sich während des Wachstums des erwachsenen Auges aktiv teilen. „Es war bemerkenswert, sich teilende Zellen am Rand der Netzhaut des Wurms zu finden – genau an der Stelle, an der einige Gruppen von Wirbeltieren ihre Netzhautstammzellen für ein lebenslanges Augenwachstum erhalten”, erzählt Milivojev.

Tatsächlich wird angenommen, dass diese sogenannte „ziliäre Randzone“ das kontinuierliche Augenwachstum unterstützt. Dieses Muster findet sich nun auch in der Netzhaut des Ringelwurms wieder. „Bemerkenswerterweise zeigte Nadjas Arbeit, dass auch die Augen von Borstenwürmern neue Photorezeptorzellen hinzufügen und ihre Größe erweitern können – eine Eigenschaft, die außerhalb der Wirbeltierlinie noch nicht gut untersucht wurde“, erklärt der leitende Autor Florian Raible von der Universität Wien. Sein Labor kann auf langjährige Erfahrung in der Stammzellbiologie zurückblicken.

Licht als Regulator

Noch faszinierender war die Entdeckung des Forschungsteams, dass das Augenwachstum bei erwachsenen Würmern ebenfalls durch das Licht in ihrer Umgebung reguliert wird. Durch detaillierte genetische und molekulare Analysen konnten sie zeigen, dass dieser Effekt durch ein c-Opsin vermittelt wird. Dieses lichtempfindliche Molekül, kommt auch in den Stäbchen- und Zapfenzellen der Netzhaut von Wirbeltieren vor.

Während frühere Studien gezeigt hatten, dass die Augen von Würmern auf eine andere Familie von Opsin-Molekülen angewiesen sind, war die neue Erkenntnis über das Vorhandensein eines c-Opsins vom Typ der Wirbeltiere eine große Überraschung.

Die Wissenschaftler entdeckten, dass dieses lichtempfindliche Molekül in frühen Vorläufern der Photorezeptorzellen des Wurms vorhanden ist. Das deutet den Forschern zufolge darauf hin, dass es als molekularer Schalter fungiert, der das Umgebungslicht mit der Stammzellaktivität verbindet. Die Entdeckung unterstreicht, dass visuelle Systeme nicht nur Licht wahrnehmen, sondern dass ihre Entwicklung auch durch Licht reguliert werden kann.

Evolutionäre Echos

Laut den Wissenschaftlern schließen diese Ergebnisse eine seit langem bestehende Lücke im Verständnis darüber, wie die Augen von Wirbellosen und Wirbeltieren wachsen und sich erhalten. Die Entdeckung, dass das Augenwachstum von Platynereis auch auf einer ringförmigen Organisation von neuralen Stammzellen beruht, bringe Biologen dem Verständnis der universellen Prinzipien hinter der Organisation dieser Sinnesorgane näher. Dies öffne den Forschen nach aber auch neue fundamentale Fragen. Könnten auch andere neuronale Stammzellen im Körper auf Umgebungslicht reagieren? Und wie könnte künstliche Beleuchtung solche natürlichen Regulationssysteme stören?

„Grundlagenforschung, die Unerwartetes aufdeckt, ist eindeutig unerlässlich, um die biologische Komplexität des Lebens und die möglichen Konsequenzen menschlicher Umwelteinwirkungen zu verstehen“, fasst die leitende Autorin Kristin Tessmar-Raible von der Universität Wien, dem Alfred Wegener Institut und der Universität Oldenburg zusammen.