Frauen mit MS erhalten seltener eine wirksame Therapie

Symbolbild für den Genderbias in der Medizin. (Foto: © 78art – stock.adobe.com)

Eine auf dem diesjährigen ECTRIMS-Kongress in Kopenhagen, Dänemark, vorgestellte Studie hat eine erhebliche therapeutische Zurückhaltung bei der Behandlung von Frauen mit Multipler Sklerose (MS) aufgedeckt, die sich auf den langfristigen Krankheitsverlauf von Frauen im gebärfähigen Alter auswirken könnten.1

Demnach deuten die vorgestellten Ergebnisse darauf hin, dass vor allem Bedenken im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft zu einer verzögerten oder reduzierten Anwendung krankheitsmodifizierender Therapien (DMT) führen können, noch bevor eine Schwangerschaft überhaupt in Betracht gezogen wird.

In einer umfassenden Analyse von 22.657 Patienten mit schubförmiger MS (74,2 % Frauen), die in das französische MS-Register (OFSEP) aufgenommen worden waren, stellten die Forscher fest, dass Frauen bei einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 11,6 Jahren eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit hatten, mit einem DMT behandelt zu werden (OR 0,92; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,87–0,97), und dass ihnen sogar noch seltener hochwirksame DMTs (HEDMTs) verschrieben wurden (OR 0,80; 95%-KI 0,74–0,86).

Der Unterschied in der DMT-Nutzung variierte zwischen den verschiedenen Behandlungen und im Zeitverlauf. Teriflunomid, Fingolimod und Anti-CD20-Therapien wurden während ihrer gesamten Verfügbarkeit deutlich zu wenig eingesetzt (OR 0,87; 95%-KI 0,77–0,98; OR 0,78; 95%-KI 0,70–0,86 bzw. OR 0,80; 95%-KI 0,72–0,80). Interferone und Natalizumab wurden anfangs seltener eingesetzt, ihr Einsatz glich sich im Laufe der Zeit allerdings an (OR 0,99; 95%-KI 0,92–1,06 bzw. OR 0,96; 95%KI 0,86–1,06). Im Gegensatz dazu wurden Glatirameracetat und Dimethylfumarat anfangs von beiden Geschlechtern gleich häufig verwendet, im Laufe der Zeit wurden die dann aber häufiger Frauen verschrieben (OR 1,27; 95%-KI 1,13–1,43 bzw. OR 1,17; 95%-KI 1,03–1,42).

Die Studie hob ferner hervor, dass die Behandlungsunterschiede bei DMTs nach zwei Jahren Krankheitsdauer, bei HEDMTs bereits nach einem Jahr auftraten. Interessanterweise variierte dieser geschlechtsspezifische Behandlungsunterschied nicht signifikant mit dem Alter der Patienten, was darauf hindeutet, dass die therapeutische Zurückhaltung unabhängig vom Lebensalter der Frau fortbestehen kann.

„Diese Ergebnisse unterstreichen die dringende Notwendigkeit, die Art und Weise, wie wir Behandlungsentscheidungen für Frauen mit MS treffen, zu überdenken, insbesondere für Frauen im gebärfähigen Alter“, erklärte Prof. Sandra Vukusic, Hauptautorin der Studie. „Frauen erhalten möglicherweise nicht die wirksamsten Therapien zum optimalen Zeitpunkt, oft aufgrund von Bedenken über Schwangerschaftsrisiken, die möglicherweise nie eintreten. Der Einsatz von DMTs und HEDMTs wird häufig durch potenzielle und unbekannte Risiken im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft eingeschränkt, da oft nur unzureichende Daten vorliegen, wenn diese Medikamente erstmals auf den Markt kommen.“

Zu der beobachteten therapeutischen Zurückhaltung tragen den Forschenden zufolge sowohl Neurologen als auch Patientinnen bei, da viele von ihnen vorsichtshalber auf diese Behandlungen verzichten. „Neurologen zögern möglicherweise, DMTs zu verschreiben, vor allem, wenn sie sich mit schwangerschaftsbedingten Problemen nicht auskennen“, erklärte Vukusic. „Gleichzeitig wollen Frauen verständlicherweise keine Risiken für ihr Kind oder ihre Schwangerschaft eingehen, wobei ihre Hauptsorge angeborene Fehlbildungen, fetale Verluste und fetale Wachstumsstörungen sind. Die Frauen fühlen sich auch unwohl, wenn ihr Neurologe unsicher scheint.“

In Zukunft will das Forschungsteam die Faktoren, die zu dieser therapeutischen Unausgewogenheit beitragen, genauer untersuchen und sich dabei auf die Verbesserung von Behandlungsstrategien konzentrieren, die sowohl die langfristige Gesundheit von Frauen mit MS als auch ihre Familienplanung in den Vordergrund stellen.

„Die wichtigste Auswirkung dieser Zurückhaltung ist die weniger wirksame Kontrolle der Krankheitsaktivität in DMT-freien Perioden, was zur Anhäufung von Läsionen und einem erhöhten Risiko einer langfristigen Behinderung führt”, betonte Vukusic. „Dies ist ein echter Verlust an Chancen für Frauen, insbesondere in einer Krankheitsphase, in der DMTs so wirksam sind, wenn sie frühzeitig eingesetzt werden.“

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, empfiehlt das Team einen vielschichtigen Ansatz: „Die Befähigung der Patienten durch Aufklärung, die bessere Verbreitung neuer Erkenntnisse, die formale Schulung von Fachleuten und die aktive Sammlung und Analyse von Daten aus der Praxis sind wesentliche Schritte, um die therapeutische Zurückhaltung zu verringern und eine gerechte Behandlung zu gewährleisten“, erklärte Vukusic abschließend. (ej)