Frühkindliche Taubheit: Struktur und Funktion von Otoferlin entschlüsselt

Schematische Darstellung von Otoferlin mit einer ringförmigen Anordnung seiner einzelnen C2-Domänen (links und rechts farbig dargestellt) sowie jeweils einer Transmembrandomäne (hellblau), die das Otoferlin im synaptischen Vesikel (als grauer Halbkreis dargestellt) verankert. Durch die Wechselwirkung von Otoferlin mit der Zellmembran (graue Fläche am unteren Bildrand) „dockt“ das synaptische Vesikel an der Membran an und verändert deren Struktur (durch die farbigen Kreise links und rechts am unteren Bildrand angedeutet). Dieser Vorgang führt zur Verschmelzung der beiden Membranen (unten in der Mitte der Abbildung mit den weißen Kreisen angedeutet). Bild: umg/alexey chizhik

Göttinger Forschende haben die Struktur und Funktion von Otoferlin aufgeklärt. Fehlt es oder ist seine Funktion beeinträchtigt, verursacht dies eine häufige Form frühkindlicher Taubheit. Die Ergebnisse tragen dazu bei, Gentherapien zu optimieren.

Das OTOF-Gen ist für die Bildung des Proteins Otoferlin verantwortlich, das bei der Freisetzung von eines Botenstoffs in Haarsinneszellen eine entscheidende Rolle spielt. Fehlt Otoferlin oder ist seine Funktion beeinträchtigt, kann die Schallinformation nicht an das Gehirn weitergeleitet werden – die auditorische Synaptopathie ist häufige Form frühkindlicher Taubheit. Wie genau das Otoferlin diesen Prozess beeinflusst, war bisher nicht vollständig geklärt.

Forschende der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), des Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC) und des neuen Sonderforschungsbereichs 1690 „Krankheitsmechanismen und funktionelle Wiederherstellung von sensorischen und motorischen Systemen“ ist es jetzt gelungen, die Struktur und Funktion von Otoferlin zu entschlüsseln.

Durchbruch im Verständnis der molekularen Grundlagen des Hörens

Tobias Moser, Direktor des
Instituts für Auditorische
Neurowissenschaften der
UMG. Foto: umg/frank stefan kimmel

Die Ergebnisse sind aktuell in „Science Advances“ erschienen und zeigen, dass das Otoferlin eine ringförmige Struktur mit mehreren Bindestellen für Kalzium aufweist. Die Bindung von Kalzium und Membranlipiden führt zu einer Veränderung der Otoferlin-Struktur, in deren Folge das Vesikel eng an die Membran „angedockt“ und so die Verschmelzung vorbereitet wird. Otoferlin funktioniert dabei als Kalzium-Sensor für die Botenstofffreisetzung: Sind alle Bindestellen von Otoferlin mit Kalzium belegt, kommt es zur Verschmelzung der Vesikel mit der Membran, an der vermutlich weitere Proteine beteiligt sind.

„Dies ist ein Durchbruch im Verständnis der molekularen Grundlagen des Hörens. Wir verstehen jetzt besser, wie das Otoferlin funktioniert und warum Veränderungen im OTOF-Gen, sogenannte Mutationen, zur Fehlfunktion des Proteins führt“, betont Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der UMG, Sprecher des MBExC und SFB 1690 sowie Letztautor der Studie.

„Diese neuen Erkenntnisse sind nicht nur grundlegend für das Verständnis der Hörverarbeitung, sondern auch hochrelevant für die klinische Forschung: Für OTOF-Mutationen wurde bereits die erste Gentherapie am Innenohr in klinischen Studien erfolgreich getestet. Detailliertes Wissen über Struktur und Funktion des Otoferlins eröffnet nun die Möglichkeit, diese Therapien gezielt zu optimieren“, ergänzt Moser.

Kryo-Elektronemikroskopie von Otoferlin liefert hochaufgelöste Schnappschüsse

Mit der Kryo-Elektronenmikroskopie, kurz Kryo-EM, wurde die Struktur des Otoferlins untersucht. Dazu wurde das Protein in einer Lösung schockgefroren und anschließend in einem Elektronenmikroskop bei minus 196 Grad Celsius untersucht. Am Mikroskop wurden tausende Einzelbilder des Otoferlins aufgenommen und anschließend mithilfe von Hochleistungsrechnern eine dreidimensionale (3D)-Struktur errechnet.

Anhand dieser hochauflösenden Schnappschüsse konnten die Forschenden das Otoferlin erstmals in fast atomarer Auflösung – in seiner freien Form sowie in seiner an künstliche Membranen gebundenen Form – darstellen. Dabei zeigte sich, dass Otoferlin eine ringartige Struktur bildet, die durch Bindung von Kalzium und Lipiden verändert wird und die Lipidmembran aktiv verformen kann.

„Mit der hochaufgelösten Struktur von Otoferlin haben wir erstmals die molekulare Architektur dieses einzigartigen Hörproteins sichtbar gemacht. Wir konnten sehen, wie sich bestimmte Bereiche des Proteins, sogenannte Domänen, bewegen und zusammenwirken, um die schnelle Signalübertragung im Innenohr zu ermöglichen“, erklärt Ko-Erstautor Dr. Constantin Cretu, der als Junior Fellow des MBExC die Strukturbiologie-Analysen durchgeführt hat.

Molekulardynamische Computersimulationen in Zusammenarbeit mit Forschenden um Prof. Helmut Grubmüller, Leiter der Abteilung „Theoretische und Computergestützte Biophysik“ am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften (MPI-NAT), bestätigten anschließend, dass mehrere C2-Domänen gleichzeitig mit der Membran interagieren und so das Andocken und Verschmelzen synaptischer Vesikel ermöglichen.

Auswirkungen gezielter Veränderungen im Mausmodell nachgewiesen

In Kooperation mit Prof. Dr. Nils Brose, Leiter der Abteilung „Molekulare Neurobiologie“ am MPI-NAT, konnte im Tiermodell nachgewiesen werden, dass gezielte Veränderungen einzelner Kalzium-Bindungsstellen in Otoferlin zu einer fehlerhaften Schallübertragung führten. Insbesondere kam es durch die gestörte Kalziumbindung an Otoferlin zu einer Verminderung der Freisetzungswahrscheinlichkeit der Vesikel bei Reizung der Haarsinneszellen. Eine hohe Freisetzungswahrscheinlichkeit ist ein entscheidender Mechanismus für die hochpräzise Signalübertragung im Ohr.

„Die genetischen Mausmodelle haben uns gezeigt, wie empfindlich das System auf kleinste Veränderungen reagiert. Schon der Ausfall einzelner Kalzium-Bindungsstellen führte zu Defiziten in der synaptischen Übertragung von Schallinformation – ein direkter Beleg für die zentrale Rolle von Otoferlin als Kalzium-Sensor der Vesikelfreisetzung“, ergänzt Erstautor Han Chen, der die Analyse der Otoferlin-Funktion im Mausmodell maßgeblich vorangetrieben hat.