Gendefekt macht Gehirn zu groß oder zu klein27. August 2024 Die Forschenden konnten eine Korrelation zwischen der Hirngröße der Patienten und der Stelle, wo sich die Mutation im Gen ZNRF3 befindet, nachweisen. (Quelle: © UZH) Ein Gen namens ZNRF3, das bei Krebs eine Rolle spielt, bringt auch das Gehirn durcheinander. Ist eine der beiden Gen-Kopien defekt, wird das Gehirn entweder zu groß oder zu klein, was diverse Krankheitssymptome zur Folge hat. Vor fast einem Jahrzehnt behandelten Mediziner an der Universität Zürich eine Patienten, die an einer sehr seltenen Krankheit litt: Sie hatte ein außergewöhnlich kleines Gehirn, eine Sprachverzögerung und eine ektodermale Dysplasie, die Haare, Nägel und Zähne der Patientin betraf. Die Wissenschaftler sequenzierten einen Teil der DNA der Patientin und fanden einen Defekt in einer der beiden Kopien des Gens ZNRF3. Dieses Gen wurde bisher nicht mit angeborenen Störungen in Verbindung gebracht. Der Defekt bewirkt die Bildung eines veränderten Proteins, in dem die Forschenden die Ursache für die Symptome vermuteten. Seitdem fanden sie noch elf weitere Patientinnen und Patienten aus der ganzen Welt, bei denen unterschiedliche Veränderungen in demselben Gen gefunden wurden. Erstaunlicherweise zeigten die meisten von ihnen zwar auch unterschiedliche neurologische Entwicklungssymptome auf, hatten jedoch ein abnormal großes Gehirn. Daraufhin analysierten Paranchai Boonsawat und Kollegen die fehlerhaften Genversionen im Labor und fanden heraus, dass zwischen der Hirngröße der Patienten und der Stelle, wo sich die Mutationen im Gen befinden, eine Korrelation besteht. Nach einer langen diagnostischen Odyssee gelang es ihnen schließlich, die genaue Krankheitsursache aufzudecken. Seltene Krankheiten erfordern globale Zusammenarbeit So fanden die Wissenschaftler bei sieben der elf Patienten Veränderungen, die zu einem fehlerhaften ZNRF3-Protein führten, während bei vieren eine verminderte Menge des ZNRF3-Proteins zu erwarten war. Von den sieben Personen mit einem defekten Protein wiesen sechs neurologische Entwicklungsprobleme mit einem abnormal großen Gehirn auf, während eine Person eine tiefgreifende Entwicklungsverzögerung mit einem abnormal kleinen Gehirn zeigte. Die vier Personen mit nur einer funktionsfähigen Kopie zeigten keine neurologischen Symptome, dafür Fehlfunktionen in Herz, Nebenniere oder Niere. Patienten, die beide Genkopien verloren hatten, fanden die Forschenden nicht. Fehlt der Erbfaktor komplett, scheint Leben nicht möglich zu sein. ZNRF3-Mutation betrifft auch Krebserkrankungen Das ZNRF3-Gen reguliert die Menge der Zellen, die im Hirn und auch in anderen Organen gebildet werden. Mutationen in seiner DNA-Sequenz können daher zu einer unkontrollierten Zellvermehrung führen und werden mit einer Vielzahl von Tumoren wie Dickdarm- oder Nebennierenkrebs in Verbindung gebracht. Eine der Analysen ergab, dass es eine kleine, als „RING“ bezeichnete Region des ZNRF3-Gens gibt, in der verglichen mit der restlicher Gensequenz viele der bei Krebserkrankungen gefundenen Mutationen zu finden sind. Auch bei den meisten Patienten mit abnormal großen Gehirnen liegen die Mutationen in der RING-Region. Deshalb haben Betroffene möglicherweise ein höheres Risiko, im Laufe ihres Lebens einen Tumor zu entwickeln. Umwelteinflüsse spielen ebenfalls eine Rolle Neben Mutationen in der RING-Region, die mit abnormal großen Gehirnen korrelieren, entdeckten Boonsawat und Kollegen bei einer Patientin mit einem abnormal kleinen Gehirn auch Defekte in einer anderen, kleineren Region, die für die Interaktion mit einem Gen namens RSPO wichtig ist. Nur ein Patient wich von diesem Muster ab: Die RING-Region seines ZNRF3-Gens war mutiert, dennoch hatte er ein abnorm kleines Gehirn. Wir verfolgten seine Familiengeschichte und fanden heraus, dass seine Mutter während der Schwangerschaft eine Vielzahl von Drogen konsumierte. Offenbar können bei dieser Erkrankung Umwelteinflüsse die genetischen Defekte überlagern. Molekulare Defekte aufzeigen Das Gen ZNRF3 sorgt über den sogenannten „Wnt-Signalweg“ für das perfekte Gleichgewicht der biochemischen Signale, die für die Bildung der richtigen Anzahl von Gehirnzellen erforderlich sind. Das ZNRF3-Gen arbeitet mit dem RSPO-Gen zusammen, das ebenfalls mit dem Wnt-Signalweg interagiert. Im Labor erzeugten die Züricher Wissenschaftler verschiedene defekte Versionen des ZNRF3-Gens und erfassten, wie die Wnt-Signalwirkung dadurch verändert wurde. Dabei entdeckten sie, dass die Defekte in der RING-Region (von den Patienten mit abnorm großen Gehirnen) die Wnt-Signalwirkung verstärkten, während die Mutationen in der RSPO-interagierenden Region (von der Patientin mit abnorm kleinem Gehirn) diese verringerten. Die Ergebnisse zeigen, dass die richtige Hirngröße von einer ausbalancierten Wnt-Signalgebung abhängt. Ist sie zu stark oder zu schwach, kann das Gehirn zu groß bzw. zu klein werden. Computermodellierungen der defekten Versionen des ZNRF3-Proteins bestätigten die Befunde: Gestörte Enzymfunktionen gehen auf Mutationen in der RING-Region zurück und eine beeinträchtigte Bindung an das RSPO-Protein auf Mutationen in der RSPO-interagierenden Region. Behandlungsoptionen und Krebsfrüherkennung Es gibt bereits von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassene Medikamente, die den Wnt-Signalweg beeinflussen. Ihren Ergebnissen zufolge wäre es vermutlich sinnvoll, Wnt-Modulatoren bei Patienten mit defektem ZNRF3-Gen therapeutisch einzusetzen, resümieren die Autoren. Allerdings sollte ein Wnt-Hemmer nur für Patienten mit einem abnorm großen Gehirn in Betracht gezogen werden, nicht aber für Patienten mit einem abnorm kleinen Gehirn, erklärten Boonsawat und Kollegen. Das ZNRF3-Gen reiht sich in eine Reihe Dutzender anderer Gene ein, die am Wnt-Signalweg beteiligt sind und mit der Hirngröße in Verbindung gebracht wurden. Es ist jedoch das bisher einzige dieser Gene, das zu gegensätzlichen Hirngrößen – dem sogenannten Spiegeleffekt – mit einem ausgeprägten regionsspezifischen Muster führt. Da ein gestörter Wnt-Signalweg mit Krebs in Zusammenhang steht, könnten Überwachung und Intervention für Patienten mit einem fehlerhaften ZNRF3-Gen geplant und personalisiert werden.
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