Gender-Effekte bei der notärztlichen Behandlung psychiatrischer Notfälle9. Dezember 2024 Dr. Benedikt Schick mit Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona vor einem Notarztwagen. (Foto: Uniklinikum Ulm) Wo der Notarzt eher zur Spritze greift, vertraut die Notärztin stärker auf eine empathische Patientenansprache. Eine Studie des Uniklinikums Ulm zeigt, dass es statistisch signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede bei der prähospitalen Behandlung psychiatrischer Notfälle gibt. Psychiatrische Notfälle sind für Notärzte und Notärztinnen häufig eine große Herausforderung. Anders als bei einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall oder einem Knochenbruch, für die es klar definierte prähospitale Handlungsabläufe gibt, sind die individuellen Spielräume für die Behandlung psychiatrischer Notfälle größer. „Solche Notfälle treten häufig vielseitiger in Erscheinung als bei somatischen Krankheitsbildern und sie zeigen oft eine unberechenbare Entwicklung. Teilweise sind sie sogar mit einer erheblichen Gefährdung für das versorgende Personal und die Betroffenen selbst verbunden“, erklärt Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona, Stellvertretender Leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Universitätsklinikums Ulm. Der Mediziner ist Mitautor einer Studie, die untersucht hat, ob Notärzte und Notärztinnen diesen Spielraum unterschiedlich nutzen. Die Untersuchung, an der auch die Ulmer Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin beteiligt ist, hat gezeigt, dass es in der Tat geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Behandlung psychiatrischer Notfälle gibt. Für die Studie wurden insgesamt 2882 Protokolle von Notarzteinsätzen mit psychiatrischer Indikation analysiert. Einbezogen wurden Notfalleinsätze der drei Ulmer Notarztstandorte Eselsberg, Michelsberg und Safranberg von 2015 bis 2021. Die Einsätze wurden kategorisiert und quantifiziert: Rund 47 Prozent der Fälle waren auf eine Intoxikation mit Alkohol oder anderen Drogen zurückzuführen, 17 Prozent auf suizidales Verhalten, zehn Prozent befanden sich in einer psychischen Ausnahmesituation, neun Prozent der Fälle zeigten Anzeichen einer motorischen Hyperaktivität (Agitation), ebenfalls neun Prozent die einer Angst- oder Panikstörung und rund acht Prozent der Fälle fielen unter „sonstige psychiatrische Erkrankungen“. Insgesamt 68 Prozent der Notfallpatienten wurden nach der notärztlichen Intervention stationär aufgenommen, und von diesen kam ein Fünftel direkt in die psychiatrische Akutbehandlung. Durchschnittlich 24 Ärztinnen und 31 Ärzte leiteten pro Untersuchungsjahr die Notfalleinsätze. „Für die Untersuchung haben wir die notärztliche Intervention nach Geschlechtern analysiert“, erklärt Celine Schwarzer, die im Rahmen ihrer Dissertation an der Datenerhebung beteiligt war und ebenfalls Mitautorin der im Fachjournal „BMC Emergency Medicine“ veröffentlichten Studie ist. Für die retrospektive Kohortenstudie wurden die Behandlungsprotokolle systematisch nach dokumentierten Behandlungsschritten ausgewertet. Dazu zählten beispielsweise Maßnahmen zur Sicherung der Atemwege und der Herzkreislauffunktion. Erfasst wurde auch das Monitoring der Körperfunktionen wie Puls, Blutdruck, Temperatur und Blutzuckermessung. War die Gabe von Medikamenten oder eines Antidots notwendig? Wurde ein Kriseninterventionsteam angefordert? Bei der statistischen Auswertung zeigte sich, dass Notärzte in psychiatrischen Notfallsituationen mehr als doppelt so häufig intravenöse Hypnotika verabreicht hatten als ihre weiblichen Kolleginnen. Gerade bei Angst- oder Panikstörungen gelang es den Notärztinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen signifikant häufiger, auf weniger invasive Maßnahmen zurückzugreifen. Während die Notärzte also eher auf die Wirkung einer Spritze setzten, zeigten die Daten, dass Notärztinnen den Fokus mehr auf eine empathische Patientenansprache legten. Außerdem gab es Hinweise darauf, dass die Frauen nach Abwägung der Vor- und Nachteile häufiger auf die Messung von Vitalparametern verzichteten, um mögliche Eskalationen zu verhindern. Denn medizinische Handlungen, selbst wenn sie nur dazu dienen, Blutdruck und Puls zu messen, werden von psychiatrischen Patienten in manchen Fällen als übergriffig empfunden. Keine geschlechterbedingten Unterschiede gab es bei der Häufigkeit der Durchsetzung einer indizierten Krankenhausaufnahme gegen den Willen des Patienten. Doch die männlichen Notärzte griffen auch dabei häufiger zur Spritze und verabreichten ein Hypnotikum. „Die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus gegen den Patientenwillen in Kombination mit der erzwungenen Verabreichung von Psychopharmaka zur Beruhigung, Sedierung und Betäubung sind für den Betroffenen als Maximaleskalation der Intervention zur sehen und bedeuten massive Eingriffe in die Integrität der Personen“, erläutert Dr. Benedikt Schick. Der Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin ist Erstautor der Studie. Solche Maximalinterventionen waren bei den Notärztinnen seltener. Der entscheidende Faktor scheint dabei aber nicht das Geschlecht an sich, sondern die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Kommunikation zu sein. „Das Ergebnis der Ulmer Untersuchung stützt bereits bekannte Befunde, dass Ärztinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen einen empathischeren Kommunikationsstil pflegen. Es scheint ihnen durch aktives Zuhören und positiven Zuspruch besser zu gelingen, eine vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung auf Augenhöhe aufzubauen und seltener eine Interventionseskalation zu riskieren“, resümiert Schönfeldt-Lecuona.
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