Gendermedizin in der Ophthalmologie – Sind Frauenaugen anders krank?

Maya Müller plädiert für eine stärkere Beachtung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Augenheilkunde. Foto: Kaulard/Biermann Medizin

Geschlechtsspezifische Aspekte gewinnen auch in der Augenheilkunde zunehmend an Bedeutung. Für Augenärzte sei es daher wichtig, geschlechtsbezogene ophthalmologische Unterschiede zu verstehen, um individuelle Behandlungsstrategien zu optimieren, erläuterte Prof. Maya Müller anlässlich des DOG-Kongresses 2024.

Männer und Frauen, so verdeutlichte Müller, würden sich in bestimmten anatomischen und physiologischen Aspekten des Auges unterscheiden, die eine Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von Augenerkrankungen spielen könnten – hierzu zählten etwa die Hornhautdicke und -sensibilität, der Tränenfilm oder hormonelle Einflüsse. Des Weiteren bestünden geschlechtsspezifische Unterschiede bei Augenerkrankungen wie zum Beispiel dem Glaukom, der Altersbedingten Makuladegeneration, dem Trockenen Auge und der Endokrinen Orbitopathie, betonte Müller, die als Ärztliche Direktorin am Züricher Institut für Refraktive und Ophthalmo-Chirurgie (IROC), Schweiz, tätig ist.  

Bessere Compliance, höheres Erblindungsrisiko

Hinsichtlich der Therapietreue zeigten Frauen oft eine bessere Compliance, was unter anderem bei der Glaukomtherapie möglicherweise zu besseren Langzeitergebnissen führen könnte, berichtete Müller.  Aktuelle Studien wie die Daten der IRIS Registry, der weltgrößten Datenbank für Augenheilkunde, hätten jedoch bestätigt, dass Frauen ein höheres Risiko haben, an Erblindungen oder Sehbehinderungen zu leiden als Männer. „Analysiert wurden mehr als 955.000 Patientendaten aus den USA. Dabei zeigte sich, dass Frauen in 63 Prozent der Fälle sehbehindert oder blind waren, während dies bei Männern nur bei 37 Prozent der Fall war. Dies bedeutet, dass Frauen ein um 15 Prozent erhöhtes Risiko haben, Sehbehinderungen zu entwickeln, selbst nach Altersanpassung“, führte Müller aus, die auch Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin ist.

Als weiteren differenzierenden Faktor verwies sie auf die unterschiedliche Verträglichkeit und Wirksamkeit von Therapien zwischen den Geschlechtern. Frauen reagierten oft sensibler auf bestimmte Medikamente oder konservierende Zusatzstoffe in Augentropfen. Allerdings fehlten noch umfassende Studien, um geschlechtsspezifische Nebenwirkungen vollständig zu erfassen und Alternativen zu entwickeln, die diese Unterschiede berücksichtigen. Studien zur Medikamentenentwicklung seien oft an Männern genormt, dies führe zu einem „Gender Data Gap“. Ebenso werteten viele klinische Studien geschlechtsspezifische Daten nicht systematisch aus. „Obwohl das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede zunimmt, gibt es in der Augenheilkunde noch einen Mangel an detaillierten Langzeitstudien, die die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Prävalenz, Krankheitsverlauf und Therapieergebnisse analysieren“, machte Müller auf den künftigen Forschungsbedarf aufmerksam.

Der Einsatz von Big Data und Künstlicher Intelligenz ermögliche nunmehr jedoch umfassendere und präzisere Auswertungen geschlechtsbezogener Unterschiede. Eine wichtige Maßnahme sei zudem die geschlechtsspezifische Rekrutierung von Studienteilnehmern, um Erkenntnisse auf beide Geschlechter ausdehnen zu können.

„Aufgrund genetischer, hormoneller und biologischer Unterschiede könnte die Behandlung von Augenerkrankungen zunehmend geschlechtsspezifisch angepasst werden. Möglicherweise gibt es in Zukunft spezialisierte Augentropfen für Männer und Frauen, die auf unterschiedliche biologische Mechanismen abzielen“, richtete Müller den Blick in die Zukunft.

Umsetzung im klinischen Alltag schwierig

Obwohl es Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede gebe, gestalte sich die Umsetzung dieser Erkenntnisse im klinischen Alltag schwierig, räumte sie ein. Viele Augenärzte sind nicht ausreichend sensibilisiert, geschlechtsspezifische Faktoren systematisch in Diagnose und Therapie einzubeziehen. Ebenso fehlten standardisierte Protokolle beziehungsweise Richtlinien, die geschlechterspezifische Therapieansätze vorschlagen. Verantwortliche Strukturen für die nachhaltige Integration von geschlechtersensibler Lehre seien lediglich an einem Drittel der medizinischen Fakultäten vorhanden, zählte Müller einen weiteren Mangel auf. Dabei habe die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte „direkte positive Auswirkungen“ insbesondere auf die Behandlung von Patientinnen.

So könnten durch das Wissen um geschlechtsspezifische Risikofaktoren frühzeitig Präventionsmaßnahmen ergriffen und Früherkennungsstrategien entwickelt werden. Patientinnen profitierten zudem von personalisierten und auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmten Therapieformen. „Dies ist insbesondere bei Erkrankungen wie dem Trockenen Auge, Glaukom und der AMD wichtig“, unterstrich Müller. Eine geschlechtsspezifische Herangehensweise ermögliche es, Nebenwirkungen zu minimieren und die Therapietreue zu verbessern. Dies führe vor allem bei den chronischen Erkrankungen zu einer besseren Lebensqualität.

Ein aufstrebendes Feld in der Augenheilkunde

„Da Frauen eine höhere Lebenserwartung haben, leiden sie auch häufiger an altersbedingten Augenerkrankungen. Mit der alternden Bevölkerung wächst der Druck, gezieltere Präventions- und Behandlungsstrategien zu entwickeln, um den speziellen Bedürfnissen von Frauen gerecht zu werden“, betonte Müller die Notwendigkeit, den geschlechtsspezifischen Aspekten verstärkte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

„Gendermedizin in der Augenheilkunde ist ein interessantes, aufstrebendes Feld mit erheblichen Vorteilen für die Augenheilkunde“, resümierte Müller. Augenärzte sollten geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Prävalenz, dem Verlauf und der Therapie von Augenerkrankungen berücksichtigen, um die Versorgung weiblicher Patienten zu optimieren. Zukünftige Forschung und Anwendung von Big Data und personalisierter Medizin würden die Entwicklung dieses Bereiches weiter vorantreiben, um eine noch präzisere und effektivere Behandlung zu gewährleisten. Schließlich profitierten alle Geschlechter von der Wahrnehmung ihrer Unterschiede, einer adäquaten Ansprache ihrer Bedürfnisse sowie von Forschung und Präventions- und Therapiemaßnahmen, die auf sie abgestimmt seien. (dk)