Genetischer Auslöser für Adipositas schützt gleichzeitig das Herz

Übergewicht ist normalerweise ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine Variante der genetisch bedingten Adipositas zeigt jedoch ein reduziertes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Symbolbild: adragan/stock.adobe.com

Es klingt paradox: Eine genetische Mutation, die zu starker Adipositas führt, reduziert gleichzeitig das Risiko von Herzkrankheiten und senkt Cholesterinwerte. Doch genau das konnten Forschende der Ulmer Universitätsmedizin nun zeigen.

In Zusammenarbeit mit den Universitäten Cambridge und Genf analysierten die Ulmer Forschenden Gesundheitsdaten tausender Menschen mit Adipositas. Die Ergebnisse der Studie wurden jüngst in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“ veröffentlicht.

Sie sind deshalb erstaunlich, weil starkes Übergewicht eigentlich ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist. Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, Insulinresistenz und Entzündungen schädigen dabei Herz und Blutgefäße und verringern die Lebenserwartung der Betroffenen.

Seltene Mutation verursacht Adipositas

Im Mittelpunkt der aktuellen Studie steht der Versuch, die grundlegenden Mechanismen hinter der Regulation des Körpergewichts zu verstehen – und die Frage, weshalb manche Menschen trotz Fettleibigkeit keine Herzkrankheiten entwickeln. Um sie zu beantworten, untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R), der im Gehirn den Appetit und damit das Körpergewicht reguliert. Funktioniert der MC4R aufgrund einer seltenen Mutation nicht richtig, ist das eine Ursache für genetisch bedingte Adipositas. Wie die ausgewerteten Daten zeigen, sind davon etwa vier Prozent der an Adipositas erkrankten Kinder betroffen.

Die Forschenden analysierten genetische Sequenzen von 7719 Menschen mit extremer frühkindlicher Adipositas. Bei 316 Personen und 461 ihrer Familienmitglieder wiesen sie Veränderungen in MC4R nach. Der Vergleich mit Daten von mehr als 330.000 Kontrollpersonen ohne solche Veränderungen zeigte: Trotz eines ähnlich hohen Body-Mass-Index hatten die Betroffenen deutlich bessere Blutfettwerte und einen niedrigeren Blutdruck.

MC4R: Mögliche Schlüsselrolle bei Fettstoffwechsel

Insbesondere bei Erwachsenen mit MC4R-Veränderungen waren die Werte für Gesamtcholesterin, das „schlechte“ Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin und Triglyzeride signifikant niedriger. Die Forschenden untersuchten auch, wie sich der Stoffwechsel von Personen mit MC4R-Defekt nach einer fettreichen Mahlzeit verhält. Sie fanden Hinweise darauf, dass bei Betroffenen im Vergleich zur Kontrollgruppe mehr Fett im Fettgewebe gespeichert wird, was die niedrigeren Fettstoffwechsel-Werte im Blut erklären könnte.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Melanocortin-4-Rezeptoren im Gehirn eine Schlüsselrolle bei der Regulation des Fettstoffwechsels spielen und zugleich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen beeinflussen können“, erklärt Erstautorin Dr. Stefanie Zorn von der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm.

Grundlage für Präventions- und Therapiemaßnahmen

„Adipositas ist eine komplexe, chronische Erkrankung, die weit über das äußere Erscheinungsbild hinausgeht. Nur durch ein besseres Verständnis der genetischen und zugrundeliegenden biologischen Mechanismen können wir individuelle Therapien entwickeln und Betroffenen effektiv helfen“, ergänzt Prof. Martin Wabitsch, Sektionsleiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Ulm und stellvertretender Standortdirektor des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ) Ulm.

Die Entdeckungen könnten weitreichende Folgen für die Entwicklung neuer Vorsorgeansätze bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Die gewonnen Erkenntnisse können einerseits in der Prävention Anwendung finden, indem Personen mit Adipositas und niedrigen Cholesterinwerten gezielt genetische Tests angeboten werden. Andererseits könnten die Ergebnisse auch für die Arzneimittelforschung genutzt werden. Im Rahmen der personalisierten Medizin könnten zum Beispiel selektive MC4R-Agonisten dazu dienen, ausschließlich den Blutdruck zu regulieren, ohne Einfluss auf Hunger und Sättigung zu nehmen.

Wabitsch betont: „Internationale Kooperationen wie diese sind insbesondere bei seltenen Erkrankungen entscheidend, um die begrenzte Anzahl von Patientendaten zu bündeln und neue, umfassende Erkenntnisse zu gewinnen – und damit neue Perspektiven für die Diagnostik und Therapie zu eröffnen.“