Geriater: Deutschland ist auf extreme Hitzeereignisse „drastisch unvorbereitet“2. Juli 2025 Extreme Hitzeereignisse in Deutschland: Für den Schutz insbesondere vulnerabler Bevölkerungsgruppen in solchen Fällen haben die Verfasser einer aktuellen Arbeit konkrete Vorstellungen. (Abbildung: © Günter Albers/stock.adobe.com) Experten der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) sind in einer aktuellen Analyse zu dem Schluss gekommen, dass Deutschland auf anhaltende Temperaturen von mehr als 40 Grad bislang nicht genügend vorbereitet ist – eine Gefahr, die nicht nur Senioren betrifft. „Wenn keine ausreichenden Vorbereitungen getroffen werden, können in extremen Hitzefällen Zehntausende Todesfälle binnen weniger Tage die Folge sein – und die wären zu vermeiden“, betont DGG-Präsident Prof. Markus Gosch. Der federführende Autor der nun vorgelegten Arbeit, Prof. Clemens Becker ergänzt: „Während andere Länder bereits katastrophale Hitzewellen erlebt haben – und das sind längst nicht mehr nur die Länder im Süden Europas –, fehlen in Deutschland grundlegende Vorbereitungen für solche Extremereignisse.“ Becker ist Leiter der Unit Digitale Geriatrie am Geriatrischen Zentrum des Universitätsklinikums Heidelberg.Die Datenanalyse zeigt nach Auffassung der DGG deutlich, dass ältere Menschen überproportional von hitzebedingten Todesfällen betroffen sind. Die dramatische Zunahme der Sterblichkeit mit dem Alter verdeutliche die besondere Verantwortung der Geriatrie in dieser Krise. Bei älteren und hochaltrigen Personen seien vor allem physiologische Risikofaktoren zu beachten. Diese sind:• verminderte Temperaturregulation• reduziertes Durstempfinden• Medikamenteninteraktionen bei Hitze• häufige Vorerkrankungen (Herz-Kreislauf, Niere)• eingeschränkte Mobilität sowie kognitive BeeinträchtigungenBesonders betroffen sind der DDG zufolge zudem Personen mit chronischen Krankheiten – körperlich und psychisch – sowie Säuglinge, Kleinkinder und Schwangere. Auch Menschen, die im Freien arbeiten – wie beim Bau oder in der Landwirtschaft – oder Obdachlose können besonders betroffen sein. Als problematisch stuft die DGG die Tatsache ein, dass extreme Hitzeereignisse in Deutschland rechtlich nicht als Katastrophen eingestuft werden – dies, so die Experten, erschwere verbindliche Maßnahmen. Viele Vorkehrungen basierten auf Freiwilligkeit und seien nicht verpflichtend. Zudem fehlten klare Zuständigkeiten und konkrete Pläne, zum Beispiel für Evakuierungen, Beschäftigungsverbote im Freien oder Urlaubssperren im Gesundheitswesen. Zudem sei die Kommunikation mit der Bevölkerung oft nicht ausreichend geplant oder koordiniert, wie die Forschenden in ihrer Arbeit betonen. Setzen sich gemeinsam für Schutzmaßnahmen bei extremen Hitzeereignissen ein: DGG-Präsident Markus Gosch (li.) und Clemens Becker, Leiter der Unit Digitale Geriatrie am Geriatrischen Zentrum des Universitätsklinikums Heidelberg. (Fotos: © Klinikum Nürnberg und Robert Bosch Krankenhaus, Fotostudio M42 Thomas Frank und Katja Zern) Forderungen der DGG: Aktionspläne überarbeiten, Krisenstäbe bilden Für die Praxis raten die Experten: Vorbereitungen auf einen Hitzedom müssen mit einem Vorlauf von mehreren Monaten erfolgen, Hitzeaktionspläne weiterentwickelt und extreme Krisenszenarien explizit aufgeführt werden. In Ballungszentren wie Rhein-Main, dem Ruhrgebiet oder Berlin sei es nötig, dass sich zentrale Notaufnahmen auf die Versorgung vieler Patienten mit Hitzeschlag vorbereiten. „In alle Schritte für die medizinische Versorgung müssen Altersmedizinerinnen und -mediziner eingebunden sein“, unterstreicht DGG-Präsident Gosch. Zusammen mit den Autoren der gerade veröffentlichten Analyse „Hitzedom in Deutschland und wie gut wir darauf vorbereitet sind“ fordert die DGG eine präventive Hitzevorbereitung statt reaktive Krisenreaktion. Als dafür notwendige Maßnahmen definieren die Verfasser der Arbeit Folgendes:• Extreme Hitzeereignisse sind als Naturkatastrophen zu definieren.• Alle Hitzeaktionspläne mit Einbeziehung extremer Szenarien sind sofort zu überarbeiten.• Krisenstäbe müssen eingerichtet werden, um im Ernstfall schnell reagieren zu können.• Notaufnahmen in Krankenhäusern müssen auf viele Hitzschlag-Patienten vorbereitet werden.• Es muss ein gezielter Datenabgleich zwischen Kranken- und Pflegekassen erfolgen, um Risikopersonen gezielt zu schützen.• Mobile Einsatzteams müssen für besonders gefährdete Personen etabliert werden.• Mögliche Urlaubssperren oder Urlaubsabbruch für Beschäftigte im Gesundheitswesen sind einzuplanen.• Geschulte Laieneinsatzhelfer der Hilfsorganisationen müssen aktiviert werden.• Gekühlte Räume in Stadtteilen sollten gekennzeichnet und zugänglich gemacht werden.• Evakuierungen in besonders gefährdeten Stadtteilen müssen vorbereitet werden.• Zeitlich befristete Beschäftigungsverbote für planbare Außentätigkeiten müssen möglich gemacht werden. Hitzedom: Aktuelle Daten aus Deutschland im weltweiten Vergleich Vom Wetterphänomen eines Hitzedoms spricht man, wenn eine starke Hochdruckzone wie eine Kuppel wirkt und dadurch die Hitze über einem Gebiet quasi einschließt. Dies führt zu lang anhaltenden, extrem hohen Temperaturen – oft über 40 Grad Celsius –, Trockenheit und einer erhöhten Gefahr für Mensch, Natur und Infrastruktur. In den vergangenen vier Jahren habe es in Regionen wie Arizona (USA), Indien, Saudi-Arabien, Australien und Kanada Hitzewellen mit Temperaturen von über 40 Grad Celsius gegeben, ist der Studie zu entnehmen. Die Dauer dieser Hitzewellen reichte von 14 Tagen bis zu mehr als drei Monaten (Arizona). Besonders der Hitzedom in Vancouver (Kanada) 2021 war den Studienautoren zufolge ein Weckruf: Dort wurden fast zwei Wochen Temperaturen von bis zu 49 Grad Celsius gemessen, was zu zahlreichen Todesfällen führte.In Deutschland gab es im Sommer 2003 eine Hitzewelle mit geschätzt 7600 hitzebedingten Todesfällen, wie es in einer Mitteilung der DGG heißt. Weniger als 20 Prozent der deutschen Bevölkerung sähen den Klimawandel aktuell als vorrangiges Problem an. Das spiegele sich auch in den politischen Maßnahmen wider: „In zuletzt nur 25 von mehreren Tausend Kommunen gibt es derzeit Hitzeaktionspläne, die zudem kaum oder keine Maßnahmen für extreme Hitzeereignisse wie einen Hitzedom enthalten“, erklärt Becker. „Die meisten Regionen in Deutschland sind auf Extremhitze nicht vorbereitet. Wären sie es, könnten sie in Zukunft Zehntausende Todesfälle verhindern.“ Kühlwesten für Hochrisikogruppen, präventive ambulante Betreuung Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt (Foto: © Die Hoffotografen) Auch die Bundesärztekammer (BÄK) und die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) fordern aktuell Schutzkonzepte gegen den Hitzedom und entsprechende nationale Strategien. So sagt BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt: „Die gesundheitlichen Gefahren von Hitze werden oft unterschätzt, sie sind aber erheblich, im schlimmsten Fall kann der Kreislauf versagen.“ Er betont, dass noch wesentliche Bausteine für eine Hitzeschutz-Infrastruktur fehlten. Für Hochrisikogruppen sollten Kühlwesten angeschafft werden, fordert er. Wearables zur Temperaturüberwachung könnten hier ebenfalls hilfreich sein. „Sinnvoll ist auch, dass Hausärztinnen und Hausärzte gemeinsam mit ihren Praxisteams Risikopatienten identifizieren und präventiv ambulant betreuen“, so Reinhardt weiter. Praxisansätze aus einem Pilotprojekt in Recklinghausen Wie so etwas aussehen kann, illustriert ein Pilotprojekt in Recklinghausen: Es zeigt, wie alleinlebende Senioren durch „eine direkte, zugehende Betreuung während Hitzeperioden besser geschützt werden können“, berichtet das Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen. Die Ergebnisse machten deutlich: Lokale, alltagsnahe Präventionsangebote könnten Leben retten und gehörten in jede kommunale Hitzevorsorge. „Unser Projekt HitzeRE zeigt, wie wichtig zugehende Angebote sind, die im Alltag der Menschen ansetzen und Vertrauen aufbauen“, erklärt Dr. Peter Enste, Leiter des Forschungsschwerpunkts Gesundheitswirtschaft & Lebensqualität am IAT. „Klassische Informationskampagnen reichen hier oft nicht aus.“ Im Rahmen des Pilotprojekts stellte sich auch heraus, dass viele ältere Menschen nicht wissen, welche Auswirkungen Medikamente bei extremer Hitze haben können. Ärztliche Praxen und Apotheken sollten nach Auffassung der Wissenschaftler des IAT diese Beratung stärker in den Fokus rücken.In Recklinghausen wurden Senioren während Hitzeperioden telefonisch betreut, dabei an eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme erinnert und erhielten praktische Tipps zum Lüften sowie konkrete Hinweisen zu Medikation und Verhalten. Die Resonanz sei durchweg positiv, berichtet das IAT. Das Konzept sei als einfach, alltagsnah und entlastend erlebt worden. Die Ergebnisse zeigen laut dem IAT auch, wie groß der Handlungsbedarf ist. „Hitzeprävention muss Teil einer sozial gerechten Stadtentwicklung werden“, betont Enste. KLUG: Notfallplan ist überfällig „Die bisherigen Hitzeaktionspläne sind nicht ausreichend auf diese extreme Hitzeszenarien ausgerichtet“, fasst Dr. Martin Herrmann, Vorstandsvorsitzender der KLUG, die allgemeine Situation in Deutschland zusammen. „Klare Zuständigkeiten im Katastrophenfall fehlen und Wege, um Schutzmaßnahmen so hochzuskalieren, dass sie alle erreichen, die sie brauchen. Ein flächendeckender, gestufter Notfallplan, der auch vulnerable Gruppen berücksichtigt, ist wirklich überfällig.“ Geriater Becker bringt es auf den Punkt: „Es braucht jetzt eine breite gesellschaftliche Debatte und konkrete Handlungsschritte. Die Klimafolgen werden nicht irgendwann eintreten – sie sind bereits da. Ein Hitzedom in Deutschland ist keine abstrakte Bedrohung, sondern eine reale Gefahr. Wer jetzt nicht handelt, riskiert Menschenleben.“
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