Gesichertes Wissen über COVID-19

Coronavirus SARS-CoV-2: Die European Group on Immunology of Sepsis versteht die von ihm ausgelöste COVID-19-Erkrankung als neuartige schwere Lungeninfektion mit einem ausgeprägten vaskulären Entzündungsanteil. Quelle: Center for Sepsis Control and Care/Universitätsklinikum Jena

In einer aktuell in „The Lancet Respiratory Medicine“ erschienenen Übersichtsarbeit fasst die European Group on Immunology of Sepsis die wichtigsten Erkenntnisse der durch SARS-CoV-2 ausgelösten COVID-19-Erkrankung kritisch zusammen.

Die von WissenschaftlerInnen aus Wien, Göttingen und Jena koordinierte AutorInnen-Gruppe versteht COVID-19 als eine neuartige virale Erkrankung mit einem ausgeprägten vaskulären Entzündungsanteil, die in schweren Verläufen durch eine fehlregulierte Immunantwort auf die virale Infektion gekennzeichnet ist.

Die seit anderthalb Jahren währende COVID-19-Pandemie hat einen beispiellosen Wettlauf um wissenschaftliche Erkenntnisse angestoßen, wie die Ansteckung zurückgedrängt und die Ausmaße und Folgen der Erkrankung begrenzt werden können. Die daraus entstehende Flut von wissenschaftlichen Daten nahezu aller biomedizinischen Fachdisziplinen ist selbst für ExpertInnen kaum noch beherrschbar. Es fällt zunehmend schwer, fundierte Erkenntnisse, vorläufige Befunde und Hypothesen auseinanderzuhalten – mit merklichen Folgen, auch was das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft betrifft.

Während Maßnahmen zur Infektionsprävention schnell bekannt und Impfungen im Rekordtempo entwickelt wurden, bleiben wichtige Fragen zu den Krankheitsmechanismen unterschiedlicher Krankheitsverläufe – asymptomatisch bis kritisch krank – ungeklärt. Ein Grund hierfür ist, dass die durch SARS-CoV-2 ausgelöste körpereigene Abwehrreaktion äußerst komplex und uneinheitlich ausfällt. Dadurch fehlen aber wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung evidenzbasierter Behandlungsstrategien gegen COVID-19.

Internationale, interdisziplinäre Kooperation für gesichertes COVID-19-Wissen

Koordiniert von AutorInnen aus Wien, Göttingen und Jena hat die European Group on Immunology of Sepsis, kurz EGIS, nun die Masse der erschienenen Publikationen gesichtet und kritisch ausgewertet. In einem ausführlichen Übersichtsartikel fasst die Gruppe die wichtigsten Erkenntnisse zur COVID-19-Pathophysiologie zusammen. 2018 als wissenschaftliche Diskussionsplattform für Fragen zur Immunologie der Sepsis etabliert, bietet das EGIS-Netzwerk laut eigenen Angaben durch seine Interdisziplinarität beste Voraussetzungen, um die ausufernde COVID-Datenmenge zu sichten und kritisch zu durchleuchten. EGIS umfasst 27 WissenschaftlerInnen aus zehn Ländern und verschiedenen Fachdisziplinen. „Die vorbehaltfreie Zusammenarbeit über Fächer- und Ländergrenzen hinweg ist entscheidend, gerade in der derzeitigen Situation“, betont einer der EGIS-Koordinatoren und Letztautor Dr. Ignacio Rubio vom Universitätsklinikum Jena. „Nur durch eine größtmögliche Bündelung wissenschaftlicher Expertise werden wir in unserem Streben nach gesichertem ‚COVID-19-Wissen‘ entscheidend vorankommen.“

Welche Ergebnisse konnte das EGIS-Team nun zur Pathophysiologie, also den Krankheitsmechanismen von COVID-19 zusammentragen? „Im Unterschied zu anderen Corona-Viren, die häufig nur milde bis moderate Erkältungssymptome verursachen, vermehrt sich SARS-CoV-2 in den unteren Atemwegen und löst so eine schwere Lungenentzündung bis hin zu akutem Lungenversagen aus“, fassen die Beteiligten vom Universitätsklinikum Jena, des Ludwig Boltzmann Instituts für Experimentelle und Klinische Traumatologie in Wien und der Universitätsmedizin Göttingen ihre Ergebnisse zusammen. Ein entscheidender „infektiöser Vorteil“ von Sars-CoV-2 sei hierbei dessen gleichzeitig lang andauernde Besiedlung und Vermehrung auch in den oberen Atemwegen.

SARS-CoV-2 schädigt das Gefäßendothel

„Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass wir in einer bestimmten Phase der Erkrankung PatientInnen sehen, deren Sauerstoffgehalt im Blut kritisch reduziert ist, die aber zunächst oft keine Einschränkungen der Lungenbelüftung zeigen. PatientInnen atmen selbst in Ruhe nicht selten ein Vielfaches als normal üblich. Dies ist neu für uns! Es ist vermutlich ein Ausdruck, dass die virale Infektion zunächst eher die Blutgefäße betrifft als die belüfteten Areale der Lunge und so den schweren Sauerstoffmangel verursacht. Durch eine virusbedingte Schädigung der innersten Zellschicht von Blutgefäßen, dem Endothel, erklären sich auch andere häufige COVID-19-typische Organkomplikationen durch z.B. Thrombosen oder Gerinnungsstörungen“, so PD Dr. Martin Winkler von der Universitätsmedizin Göttingen.

Dazu komme eine untypische Immunantwort. Im Vergleich zu Influenza und anderen schweren Infektionen würden bei COVID-19 länger Zytokine produziert, jedoch in deutlich niedrigerer Konzentration, geben die WissenschaftlerInnen an. Dieses untypische Entzündungsprofil würde  COVID-19 von anderen septischen Krankheitsbildern unterscheiden und  möglicherweise die Immunantwort und damit auch die effiziente Elimination des Virus erschweren. Tatsächlich sei eine hohe virale Belastung mit der Erkrankungsschwere assoziiert.

COVID-19: eine neuartige schwere Lungeninfektion

Im Verbund mit einer fehlregulierten Entzündungsantwort könne die Schädigung des Endothels nicht nur die Lunge, sondern auch Organe wie Gehirn, Herz, Nieren, Darm und Leber in Mitleidenschaft ziehen, heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung der drei Forschungseinrichtungen. Verglichen mit einer Influenza-Grippe oder SARS träten bei COVID-19 Komplikationen wie Multiorganversagen und schwere Gerinnungsstörungen häufiger auf. PD Marcin Osuchowski vom Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie, Forschungszentrum der AUVA in Wien erläutert: „SARS-CoV-2 ist ein neues infektiöses Pathogen, welches unser Immunsystem vor eine neue Herausforderung stellt. Es wird damit verständlich, dass unsere Herangehensweise nicht die sein darf, bekannte und bisher vertretene Konzepte schlicht auf COVID-19 zu übertragen. Es wird zunehmend deutlich, dass die Schwere von COVID-19-Erkrankungen mit einer fehlregulierten Antwort des Immunsystems in Zusammenhang steht, die sich von bislang bekannten Mechanismen und Ursachen einer Sepsis unterscheidet. Wir raten zur Vorsicht gegenüber der weit verbreiteten Vorstellung eines systemischen Zytokinsturms als führender Grund für die beobachteten Multiorganreaktionen. Die Datenlage dazu ist noch nicht eindeutig.“

In ihrer Übersicht formuliert die EGIS-Gruppe weiterhin Forschungsfragen, die mit hoher Priorität zu beantworten sind. Dazu zählen unter anderem die genauere Charakterisierung der bekannten und die Identifizierung neuer Prognosemarker für den Verlauf und Langzeitfolgen der Erkrankung sowie qualitativ hochwertige klinische Studien zur Optimierung der gerinnungshemmenden und immunmodulatorischen Therapien.