Gibt es Lehren aus dem Ukraine-Krieg?29. April 2024 Foto: Marina – stock.adobe.com Welche Erkenntnisse haben zwei Jahr Krieg in der Ukraine gebracht? Dies trugen Traumaexperten der Bundeswehr auf dem VSOU-Kongress vor und diskutierten darüber mit einem interessierten Publikum. Die Versorgung von mittlerweile rund 1000 Kriegsverletzten in Deutschland hat den sie versorgenden Medizinern viele neue Einblicke beschert. So auch Dr. Florian Pavlu, der am Bundeswehrkrankenhaus Koblenz arbeitet und aus dem Gesehenen fachliche Notwendigkeiten für die Zukunft ableitete und vortrug. „Schrapnellverletzungen, überwiegend an den Extremitäten, und schwerste Verbrennungen sind die dominanten Verletzungen aus dem Krieg in der Ukraine“, berichtete er. Dies habe sich gegen verändert gegenüber den Erfahrungen, die man in Afghanistan gesammelt habe, wo nur ein kleiner Teil Schussverletzungen an den Extremitäten und zumeist Explosionsverletzungen dominierten. Der Charakter der zerstörerischen Schrapnellverletzungen, resultierend aus einem Geschoss, das mit etlichen Kleinteilen gefüllt ist, bindet laut Palu in kurzer Zeit unglaublich viele medizinische Ressourcen. Immer betroffen sind dem Mediziner zufolge Weichteilverletzungen mit einem massiven Keimeintrag, in der Regel multi- oder panresistenter Keime, überwiegend von E. coli und Klebsiellen. Des Weiteren zeichnen sie sich durch desaströse multifragmentäre Knochenverletzungen und der Zerstörung neurovaskulärer Strukturen aus. Nur die Rekonstruktion des Knochens kann laut Pavlu daher nie das Ziel der Behandlung sein. Zu Beginn der chirurgischen Versorgung, stehe in der Regel ein radikales Debridement. Danach beginne die „rekonstruktive Challenge“, die zeit- und ressourcenaufwendig sei. „Wir hatten einen Ukrainier, der mehr als 400 Tage bei uns in der Klink lag“, erinnerte Pavlu. Das Verwundetenaufkommen eines Krieges wie in der Ukraine überfordert die medizinischen Ressourcen binnen kürzester Zeit. Die Dimension dieses Problems verdeutlichte Pavlu an zwei Erkenntnissen. So sei in der Hauptstadt Kiew innerhalb von 48 Stunden nach der russischen Offensive die gesamte medizinische Versorgung zusammengebrochen, woraufhin die Patienten hätten evakuiert werden müssen – doch wohin? Berichten der „New York Times“ zufolge sind nach zwei Jahren Krieg 500.000 Tote auf beiden Seiten zu beklagen, zitierte Pavlu. Wenn man dann bedenke, dass auf jeden Toten ca. zehn Verwundete kommen, beschreibe dies das große Ausmaß an Verletzten. Ressourcenkonflikte seien da vorprogrammiert. In der Regel gehe es dann ohnehin nur noch um den Einsatz von Tourniquets und die lebensrettende Sofortchirurgie. Die Folge sind große Populationen von majoramputierten Personen mit Rehabilitationsbedarf, erklärte Pavlu. „Derzeit funktioniert die Reha erstaunlich gut“, so Pavlu weiter. „Denn die Betroffenen sind motiviert und wollen so schnell wie möglich wieder zurück zu ihren Familien und auch an die Front.“ Das erkläre auch, weshalb keine Follow-ups bezüglich der Therapieergebnisse möglich seien. Was mit diesen Menschen nach dem Krieg passiert, umschrieb der Mediziner als „eine Epidemie der Traumatisierten“, mit denen die Gesellschaft umgehen müsse. Sind Bundeswehr und Politik auf Kriege vorbereitet? Diese zentrale Frage beantwortete Prof. Axel Franke vom Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, der den Vortrag des verhinderten Prof. Benedikt Friemert vom Bundeswehkrankenhaus Ulm übernommen hatte, mit „nicht ausreichend“, was sowohl die Landes- als auch die Bündnisverteidigung betreffe. In einer Art „Eskalationssschema“, wie traumatische Verletzungen anfallen können, erklärte er die Fitness des Gesundheitssystems, darauf zu reagieren: Demnach ist Deutschland auf tägliche Normalfälle und den Massenanfall von Verletzten (MANV) bei zum Beispiel Zugunglücken sehr gut vorbereitet. Bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen, wie Terror oder Amokläufe ist das Land hingegen nur bedingt gut vorbereitet, auf Katastrophen wie Erdbeben wiederum gut, ohne jedoch ein klassisches Katastrophenland zu sein. Hinzu kommen Belastungen politischer Natur in Form der anstehenden großen Reformen im deutschen Gesundheitssystem – von den Kliniken über die Ambulantisierung bis hin zur Notfallversorgung, in denen der Bund Vorgaben mache, die von den Ländern umgesetzt werden müssten. Essenziell für die Vorbereitung auf Katastrophen oder einen Krieg sei das ebenfalls noch anstehende Gesundheitsvorsorge- und Sicherstellungsgesetz, das als Rechtsgrundlage benötigt werde, damit im Krisenfall die Delegation von Aufgaben zwischen Militär- und Zivilmedizin funktioniere, erklärte Franke. Die Verteilung von zehn ukrainischen Patienten in Deutschland pro Woche über das Kleeblattprinzip funktioniert dem Oberstarzt zufolge problemlos, doch für erwartete 1000 Patienten am Tag müsse das „Push-Prinzip“ durch eine Gesetzesänderung gewährleistet sein. Deshalb muss auch eine Patientenverteilorganisation etabliert sein, an dem die fünf Bundeswehrkliniken, neun BG-Kliniken sowie Unikliniken und Großversorger beteiligt sind, erläuterte er. Denn, so der Mediziner weiter, die Gesellschaft müsse sich darüber im Klaren sein, dass Deutschland im Bündnisfall zu einer Drehscheibe in Europa für Truppentransporte, Flüchtlingsbewegungen, Verwundetenversorgung und Sabotageangriffen werde, indem auch weiterhin ein ziviles Rettungssystem und der Katastrophenschutz aufrechterhalten werden soll. Das größte Problem dabei, sei das dafür benötigte Personal. „Dies kann zum Beispiel durch die Erhöhung des Reservistenalters auf mindestens 70 Jahre rekrutiert werden“, so Franke. „All das erfordert die Änderung des Mindsets in der Bevölkerung, wenn sie dazu bereit ist, ihre Freiheit zu verteidigen. Deutschland habe sehr lange von der Friedensdividende profitiert, dabei aber Strukturen zur Krisenbewältigung leichtfertig abgebaut, ob etwa Sirenen, Krankenhauskataster oder eigelagertes medizinisches Material. Allein Letzteres verursache enorme Kosten und ein neues Kreislaufsystem von Einlagerung und Benutzung vor Vernichtung. Unter dem Eindruck des Gesehenen und Gesagten bezweifelten einige Stimmen aus dem Publikum aufgrund der schon jetzt bestehenden Mangellage im zivilen Gesundheitssystem eine Gesundheits- und Verletztenversorgung im Krisenfall stemmen zu können. Ein Zuhörer warf bezüglich der Kosten für die Bevorratung ausreichend medizinischen Materials ein, dass es wahrscheinlich zu Konflikten mit den Kosten des Sozialstaats kommen werde. Auf die Frage eine Zuhörerin, ob nicht nur genügend, sondern welches medizinisches Material vorgehalten werden müsse, antwortete der Militär trocken: „Ich würde eher Weißgips einlagern als Fixateure. Das klingt hart, geht aber auch.“ Die Mangellage sei da, aber sie sei eben auch ein gesellschaftliches Problem, das diese gemeinsam lösen müsse. Auch zuversichtlichere Stimmen waren aus dem Publikum zu vernehmen: Man könne im Krisenfall sicherlich auch auf ein sich dann veränderndes Mindset der Bevölkerung vertrauen. „Wir unterschätzen hier vielleicht die Effekte der vielen Freiwilligen, die im Krisenfall bereit sind, sich zu engagieren.“ (hr)
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