Giovanni Maio: „Die Zeit ist das erste Opfer“ – DOG-Festvortrag zum ärztlichen Beruf heute

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Mit einem Appell, dafür zu kämpfen, dass Medizin Medizin bleiben soll und darf, wendet sich Prof. Giovanni Maio in seinem DOG-Festvortrag an alle Ärztinnen und Ärzte. Denn, so sein Befund, das gegenwärtige Vorbild der Medizin sei die Massenproduktion von Gegenständen. Das führe zu einer Ökonomisierung der Medizin gepaart mit einer Industrialisierung der Medizin. Maio ist Direktor des Institutes für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg.

Als ein hochspannendes Thema in der heutigen Zeit bezeichnet DOG-Präsident Prof. Hans Hoerauf den Vortrag Maios und lädt dazu ein, den rund 35-minütigen Ausführungen des Festredners der DOG 2020 online zu folgen. Bereits 300 Publikationen zu Grundfragen des ärztlichen Handelns habe Maio veröffentlicht, der selbst lange internistisch und klinisch tätig gewesen sei und heute verschiedenen Ethikbeiräten angehöre. Der Titel des Festvortrages stellt eine das ärztliche Selbstverständnis herausfordernde Frage: „Der ärztliche Beruf heute – belohnter Aktionismus und abgewertete Sorgfalt?“

Wie mit einem Skalpell seziert Maio die Situation der heutigen Medizin und präpariert vier gedankliche Stränge heraus, die seiner Analyse zufolge Ärzte nicht so handeln lassen, wie es ihrem Grundverständnis von Medizin entspreche.

Dier vier Leitgedanken seines Vortrages sind das Diktat der Minimierung des Aufwandes – die Reduzierung des Zeitaufwandes am Patienten, die Linearisierung von Komplexität – die simplifizierende Reduzierung des Patienten auf den Befund, die Orientierung am rein Messbaren die Dequalifizierung respektive Delegitimierung von allem Nichtmessbaren sowie die Etablierung der Kleinteiligkeit – die Reduzierung des Gesamtproblems auf Kleinteiliges mit einer Überschärfe im Detail und einem Diffuswerden im Ganzen.

Reflexion und Interaktion mit dem Patienten
Maio ermutigt dazu, diesen vier Aspekten der Industrialisierung der Medizin das eigentlich Genuine der ärztlichen Tätigkeit entgegenzustellen: die Reflexion, die Interaktion mit dem Patienten. Dies brauche Zeit, im Verständnis einer industrialisierten Medizin aber sei die Zeit das erste Opfer. Daher würden Anreize gesetzt, den Bedarf an Zeit – Betriebskosten – zu reduzieren. So finde eine „Negativierung der Zeit“ statt. Wer sich Zeit nehme, sei nach diesem Denkmuster potenziell ein Verschwender, müsse sich gegebenenfalls den Vorwurf gefallen lassen, ineffizient zu sein. In der Medizin sei Zeit aber kein lästiges Übel, sondern die Investition, um eine gute Medizin zu sein. Maio: „Man muss Ärzten Zeit geben, mit dem Patienten zu sprechen.“

Bei der vereinfachten Vorstellung von Medizin als fließbandartige Produktion sei hingegen die Einhaltung von Stromlinienförmigkeit essenziell – „strikt nach Plan“, durch den der Patient wie ein Werkstück durchgeschleust werde, um ihn einer Prozedur zu unterziehen. Dabei müsse dieser gar nicht so genau betrachtet, sondern nach einem Algorithmus, nach vorgefertigten Handlungsschablonen möglichst früh auf die richtige Schiene gesetzt werden, als könnte Medizin durch alleinige Handreichungslogik funktionieren. Das wäre ein automatisiertes, vor allem auf Aktionismus und lukrative Lösungen ausgerichtetes Vorgehen, warnt Maio.

Drei Schritte des ärztlichen Handelns
Nach dem Grundverständnis der Medizin aber sei beim ärztlichen Handeln in drei Schritten vorzugehen. Der erste sei der induktive Schritt, das Stellen der Diagnose. Der dritte Schritt sei die Aktion oder auch die Nicht(!)-Aktion. In der Mitte liege der zweite, der eigentliche Schritt: durch Reflexion die Befunde mit dem, was der Patient sagt, in einen individuellen Zusammenhang bringen, um für diesen einen Patienten eine gute, eine ganzheitliche Entscheidung zu treffen.

Die ärztliche Kernarbeit bestehe in einer guten Indikationsstellung durch Reflexion, verdeutlicht Maio und fragt beispielhaft „Eingriff, ja oder nein?“ Hier jeweils patientengerecht unterscheiden zu können, sei die wahre ärztliche Könnerschaft, denn jeder Patient habe eine konkrete Geschichte, keine allgemeine. In der Medizin ergebe sich Wissenschaftlichkeit aus der Orientierung am Einzelfall. Ärzte benötigten Ermessensspielräume, um über individuelle Probleme im Interesse des einzelnen Patienten entscheiden zu können, das heiße, Ärzte müssten singuläre Lösungen finden können, sehr wohl auch abweichend von Algorithmen. Zuwarten, Zuhören, Geduld, das Gesamtbild des Patienten in Augenschein nehmen – all dies gehöre hierzu. Darin liege das ärztliche Können. Maio warnt davor, nur noch zu reparieren, statt Medizin zu betreiben. Das führe dazu, dass sich die Ärzte unter Wert verkauften, dass sie dem Verständnis nach entakademisiert, ja letztlich zu Handwerkern profanisiert würden. Die Medizin sei kein Handwerk, wende zwar handwerkliches Können an, das sei schwierig genug, aber die eigentliche Essenz der Medizin gehe im Reflektorischen auf, also in jenen Prozessen, die der Entscheidung über Agieren oder Nichtagieren vorausgingen.

Komplexität bewältigen
Medizin könne sich innerhalb einer rein betrieblichen Logik nicht entfalten, ist Maio überzeugt. Medizin brauche vielmehr eine „Sorge-Logik“. Komplexität zu bewältigen, das sei die eigentliche ärztliche Fähigkeit. Neben Fachwissen seien auch Erfahrung, Empathie und der Wille, zwischenmenschlich zu agieren, nötig, um Befunde im Patientengespräch einordnen zu können. Diese Fähigkeit der Beurteilungskunst, die Indikationsstellung nach bestem Wissen und Gewissen, die sich übrigens nicht messen, sondern nur ermessen lasse, müsse an die nächste Generation weitergegeben werden. Aber auch dieses Weitergeben erfordere Zeit.
Medizin sei die Verknüpfung von Sachlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, resümiert Maio, darin sollten sich die Ärzte im Interesse ihrer Patienten nicht beirren lassen. (dk)