GKV-Finanzreform: Lauterbach erntet heftige Kritik für seine Eckpunkte30. Juni 2022 Foto: © Coloures-Pic – stock.adobe.com Ärztevertreter und Ärzteorganisationen zeigten sich alarmiert und reagierten mit Unverständnis und Kritik auf die Pläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach für eine Finanzreform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die Eckpunkte sehen laut Ankündigung des Bundesgesundheitsministers vom 28. Juni unter anderem vor, dass die 2019 im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vorgesehenen höheren Vergütungen ersatzlos gestrichen werden, mit denen die niedergelassenen Ärzte Termine für neue Patienten schaffen sollten. Details nannte der Minister vorerst nicht. „Irritiert und alarmiert“ reagierte der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV): „Es kann und darf nicht sein, dass am Ende das enorme Engagement der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bestraft wird, Neupatienten zusätzliche Termine anzubieten, so wie es die Politik auch gewollt hatte. Das Vorhaben stellt sich für die Versicherten, die einen Termin erhalten wollen, auch als echte Leistungskürzung dar. Das Vertrauen der Ärzteschaft in die Politik wird damit ein weiteres Mal erschüttert“, sagte der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen. „Es stellt sich die Frage, wie zuverlässig politische und gesetzliche Zusagen sowie Aufträge letztlich sind angesichts einer offenbar immer kürzer werdenden Halbwertszeit“, erklärte der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister. Kleinklein statt eines großen Aufschlags“Kopfschütteln” auch beim Spitzenverband Fachärzte Deutschlands e.V. (SpiFa): „Wir benötigen bei der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung eine nachhaltige grundsolide Reform. Aber anstatt eines großen Aufschlages stürzt sich Herr Lauterbach lieber aufs Kleinklein und sendet damit ein falsches Signal an Patienten und die Ärzteschaft“, so Dr. Dirk Heinrich, Vorstandsvorsitzender des SpiFa. Mit der Abschaffung der Neupatientenregelung wird am falschen Ende gespart. „Das geht vor allem zu Lasten der Patienten, die nun Dank Herrn Lauterbach wieder länger auf einen Termin warten müssen. Das sind faktisch Leistungskürzungen,“ so Heinrich weiter. „Dabei hatte doch die Einführung des TSVG viele positive Effekte für die Patientenversorgung nach sich gezogen.“ Der Wegfall der Neupatientenregelung komme für die Fachärzteschaft einer Verschärfung der Budgetierung gleich. Heinrich hierzu: „Das wird die ohnehin schon massiven Probleme in der medizinischen Grundversorgung weiter verschärfen: die Bereitschaft zur Niederlassung wird weiter sinken, insbesondere auch in prekären Versorgungsgebieten, die Bereitschaft von Fachärztinnen und Fachärzten, früher in den Ruhestand zu gehen, wird steigen.“ Auch hier indirekt die Folge für Patienten: weniger Termine, längere Wartezeiten, Leistungskürzungen. Problematisch sieht der SpiFa auch, wie mit den Bereinigungseffekten für bisher erbrachte Leistungen umgegangen werden soll. Hierzu Heinrich: „Erst müssen Fachärztinnen und Fachärzte aufgrund der Budgetierung von Leistungen auf einen Teil ihrer Honorare verzichten, dann wird ihnen eine Möglichkeit eröffnet, extrabudgetär zu praktizieren und im Nachhinein sollen diese Leistungen dann doch wieder ins Budget fallen. Das ist Betrug an der Fachärzteschaft. So geht es nicht!“ “Eindeutlige Leistungskürzung”Heinrich, der zudem Bundesvorsitzender des Virchowbundes, des Verbands der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Deutschlands, ist erklärte aus dieser Position heraus: „Wird die Vergütung reduziert, müssen auch die Leistungen eingeschränkt werden, insbesondere im Hinblick auf Inflation und Fachkräftemangel in den Praxen. Dann kommen wieder Wartezeiten bei Terminvergaben – also eine eindeutige Leistungskürzung“. Er bezeichnete Lauterbachs Pläne zudem als “schweren Schlag ins Gesicht der Ärzteschaft”. „So also sehen Respekt und Wertschätzung des Bundesgesundheitsministers gegenüber den niedergelassenen Ärzten aus, die in der Pandemie 19 von 20 COVID-Patienten behandelt und einen überwältigenden Teil der COVID-Impfungen durchgeführt haben. Ich frage mich allen Ernstes, wie Lauterbach durch den Pandemie-Herbst kommen will. Wer soll die erforderlichen Impfungen durchführen, wenn der Minister die Ärzte als zentrale Akteure so deutlich vor den Kopf stößt?“, fragte Heinrich und holte weiter aus: Leider reiht sich diese Entscheidung in eine lange Liste von Fehl- oder Nicht-Entscheidungen.“ Die katastrophale Umsetzung der Telematik-Infrastruktur und der Digitalisierungsprojekte in den Praxen, die beharrliche Weigerung, den bei der Impfkampagne besonders engagierten Medizinischen Fachangestellten eine Coronaprämie zu gewähren oder die gezielte Verschleppung einer unterschriftsreifen neuen Gebührenordnung für Ärzte seien nur die wichtigsten Beispiele, die zu Frust an der ärztlichen Basis führen. Zeitgleich werde Apothekern aber ermöglicht, ursprünglich ärztliche Leistungen zu weitaus höheren Sätzen erbringen zu können als Ärzte. „Das alles zusammengenommen sorgt für eine gehörige Portion Frust. Ich nehme schon seit einiger Zeit wahr, dass die Zahl derer steigt, die ihre Praxis vorzeitig aufgeben. Durch solche Entscheidungen, wie zur Abschaffung der Neupatientenregelung, sehe ich eine Vorruhestandswelle bei Praxisärztinnen und -ärzten auf uns zukommen“, prognostiziert der Virchowbund-Vorsitzende und befürchtet: „Insofern wird dieser Minister inzwischen auch zu einer Gefahr für die künftige Versorgung der Patienten.“ “Etikettenschwindel”„Natürlich müssen jetzt geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um das Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherung zu decken”, erklärte hingegen der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Klaus Reinhardt. “Sinnvoll wäre zum Beispiel die Einführung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel, der die Krankenkassen deutlich entlasten würde. Das sehen die Eckpunkte des Bundesgesundheitsministeriums für das GKV-Finanzierungsgesetz leider nicht vor”, bedauerte er. Dafür werde “Etikettenschwindel” betrieben, wenn man öffentlichkeitswirksam Leistungskürzungen im Gesundheitswesen ausschließe und gleichzeitig Honorarkürzungen bei Arztpraxen plane. “Mit dem Gesetz soll die zur Sicherung der Versorgung eingeführte Entbudgetierung von Neupatienten wieder gestrichen werden. Diese kurzsichtige Maßnahme wird nur einen geringen Teil des Krankenkassendefizits insgesamt ausgleichen, sie wird aber die Versorgungssituation weiter verschärfen und ist für junge Ärztinnen und Ärzte ein weiterer Grund, sich gegen eine Niederlassung zu entscheiden. Hier muss nachgebessert werden“, forderte der BÄK-Präsident. Der Vorstandsvorsitzende des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung (Zi), Dr. Dominik von Stillfried, erklärte, nach Zi-Berechnungen liefen die vorgestellten Pläne des Ministers auf eine Kürzung des Budgets für die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten um 400 Millionen Euro hinaus. Von Stillfried: „Das entspricht dem vollständigen Leistungsbudget von rund 1650 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten bzw. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Für die vielen Patientinnen und Patienten, die sich oftmals händeringend um Termine bei Haus-und Fachärzten bemühen, ist es eine echte Leistungskürzung. Es dürfte in der Folge nicht einfacher werden, mit einem akuten Behandlungsanliegen schnell einen Termin in einer Praxis zu erhalten, in der man bisher nicht schon in Behandlung war.” Eine Streichung der TSVG-Neupatientenregelung würde von Stillfried zufolge auch den Reformplänen der Bundesregierung daher inhaltlich völlig zuwiderlaufen. Das Ziel, die Notaufnahmen um Akutpatientinnen und -patienten zu entlasten, würde ebenso konterkariert, wie die im Koalitionsvertrag verankerte Absicht, die medizinische Versorgung verstärkt zu ambulantisieren. Vielmehr werde zu erwarten sein, dass sich Patientinnen und Patienten dann wieder vermehrt auch mit solchen Belangen an Kliniken wenden, die aus medizinischer Sicht einer Krankenhausbehandlung nicht bedürfen und dort knappe Ressourcen beanspruchen, so der Zi-Vorsitzende: “Das ist Reformpolitik ad absurdum geführt.” “Die Streichung von Anteilen des Versorgungsbudgets ist aber auch mit Blick auf Indikatoren der Wirtschaftslage der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht einfach nachzuvollziehen”, so von Stillfried weiter und erläuterte im Detail: “Die Ausgaben der Krankenkassen für die ärztliche Versorgung sind 2021 nur unterdurchschnittlich angestiegen. 2021 haben die Gesetzlichen Krankenkassen ein positives Finanzergebnis erzielt, wenn der Abbau der Liquiditätsreserve zugunsten des Gesundheitsfonds ausgeklammert wird. Auch der Gesundheitsfonds hat 2021 mit einem positiven Finanzergebnis von 1,4 Milliarden Euro abgeschlossen. Der Schätzerkreis erwartet für das Jahr 2023 eine Ausgabenentwicklung in der GKV von 4,5 Prozent. Die Steuerschätzung der Bundesregierung vom Mai 2022 geht von einer Steigerung des Steueraufkommens gegenüber dem Vorjahr von 6,7 Prozent aus, wobei die geschätzte Steigerung des Lohnsteueraufkommens (als Indikator für die Weiterentwicklung der GKV-Einnahmenbasis) rund 8 Prozent beträgt.“ “Nicht nachhaltig und unausgewogen”Auch der Verband der Ersatzkassen (vdek) zeigte sich vom Entwurf des Ministers nicht überzeugt. Die Vorstandsvorsitzende, Ulrike Elsner, erklärte: „Es ist gut, dass der Bundesgesundheitsminister nun endlich Vorschläge für ein GKV-Finanzierungsgesetz gemacht hat. Diese enthalten eine Reihe von Maßnahmen, die das Ziel haben, die zu erwartende Finanzierungslücke 2023 in Höhe von mindestens 17 Milliarden Euro zu schließen.” Allerdings seien die Maßnahmen nicht nachhaltig und unausgewogen. “Bisher unberücksichtigt ist ein kostendeckender Beitrag für die Versicherung von ALG-II-Empfängern in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Es handelt sich immerhin um eine Größenordnung von geschätzt 10 Milliarden Euro. Auch fehlt die vom vdek wiederholt geforderte Absenkung der Mehrwertsteuer auf Gesundheitsleistungen”, bemängelte Elsner. Stattdessen würden die Beitragszahler belastet und der Staat greife erneut auf die Finanzreserven der Krankenkassen und die Rücklagen des Gesundheitsfonds zu. “Das ist ein einmaliger Effekt. Eine nachhaltige Finanzierung sieht anders aus“, so die vdek-Vorsitzende. (hr)
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