Hirnforschung: Der Cortex altert weniger als gedacht

Abbildung: © Charoen/stock.adobe.com

Das menschliche Gehirn altert schichtweise und auch in geringerem Ausmaß als bisher vermutet – jedenfalls in dem für den Tastsinn zuständigen Bereich der Hirnrinde. So lautet das Ergebnis einer Untersuchung von Hirn-Scans junger und älterer Erwachsener sowie von Mäusen.

Die Erkenntnisse der Forschenden vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der Universität Magdeburg und des Hertie-Institutes für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen anhand von Hirnscans von jungen und älteren Erwachsenen sowie Untersuchungen an Mäusen. Die Forschungsergebnisse, veröffentlicht in „Nature Neuroscience“, liefern auch neue Erkenntnisse darüber, wie sich die Fähigkeit zur Verarbeitung von Sinneseindrücken mit dem Altern verändert.

Der Cortex wird mit den Jahren für gewöhnlich dünner. „Das ist eine typische Alterserscheinung, die unter anderem dem Verlust von Nervenzellen zugeschrieben wird“, erläutert Prof. Esther Kühn, Neurowissenschaftlerin am DZNE und am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. „Manche Fähigkeiten lassen infolgedessen nach. Im Allgemeinen geht man jedenfalls davon aus, dass weniger Hirnvolumen verminderte Funktion bedeutet. Man weiß aber wenig darüber, wie genau der Cortex eigentlich altert. Das ist bemerkenswert, da viele Tätigkeiten unseres täglichen Lebens von einem funktionierenden Cortex abhängen. Deshalb haben wir uns die Situation mit hochauflösenden Hirnscans angeschaut.“

Prozessor für taktilen Input

Kühn und das Team von Kollegen aus Tübingen und Magdeburg konzentrierten sich dabei auf einen Ausschnitt der Hirnrinde, in dem Signale des Tastsinns verarbeitet werden, den primären somatosensorischen Cortex.

„Dieses Hirnareal ist wichtig für die Wahrnehmung des eigenen Körpers und für die Wechselwirkung mit der Umgebung“, erläutert die Neurowissenschaftlerin. „Wenn ich etwa einen Schlüssel in die Hand nehme, eine Türklinke greife oder auch wenn ich laufe, dann brauche ich ständig haptisches Feedback, um meine Bewegungen zu kontrollieren. Die zugehörigen Reize laufen in diesem Areal zusammen und werden dort auch verarbeitet.“

Unerwarteter Befund

Mittels Magnetresonanztomographie (MRT) konnten die Forschenden diesen Bereich der Hirnrinde mit bislang unerreichter Genauigkeit vermessen. Sie nutzen dafür einen besonders leistungsfähigen Scanner mit einer Magnetfeldstärke von sieben Tesla, sodass sie filigrane Hirnstrukturen etwa von der Größe eines Sandkorns abbilden konnten. Insgesamt rund 60 Frauen und Männer im Alter zwischen 21 und 80 Jahren wurden untersucht.

„Bisher hatte man außer Acht gelassen, dass der primäre somatosensorische Cortex aus einem Stapel mehrerer, quasi hauchdünner Gewebeschichten besteht, von denen jede ihre eigene Architektur und Funktion hat“, sagt Kühn. „Wir haben nun festgestellt, dass diese Schichten unterschiedlich altern. Obwohl die Hirnrinde insgesamt dünner wird, bleiben manche ihrer Schichten stabil oder sind im Alter überraschenderweise sogar dicker. Mutmaßlich, weil sie besonders beansprucht werden und ihre Funktionalität dadurch erhalten bleibt. Wir sehen daher Hinweise für Neuroplastizität, also für Anpassungsfähigkeit, auch bei älteren Menschen.“

Etagierte Architektur

Der geschichtete Aufbau des primären somatosensorischen Cortex findet sich in ähnlicher Weise auch in anderen Arealen des menschlichen Gehirns wieder – und selbst bei anderen Lebewesen.

„Evolutionär hat sich offenbar bewährt, sensorische Informationen in dieser Weise zu verarbeiten“, sagt Kühn. In der aktuellen Studie erwiesen sich neben der mittleren Schicht des Cortex auch die darüber liegenden Bereiche als auffällig resistent gegen den Alterungsprozess. Die einzelnen Schichten wurden anhand ihres Gehalts an Myelin unterschieden. Diese Substanz ist für die Übertragung von Nervensignalen von Bedeutung. Kühn erläutert: „Die mittlere Schicht ist quasi die Eingangstür für haptische Reize, in den darüber liegenden Schichten finden weitere Verarbeitungsprozesse statt. Bei sensorischen Impulsen etwa von der Hand kümmern sich die oberen Schichten insbesondere um das Zusammenspiel benachbarter Finger. Das ist wichtig beim Greifen von Gegenständen. Mit unseren Probanden haben wir daher auch Tests zur taktilen Empfindlichkeit und motorischen Fähigkeit der Hand durchgeführt. Überdies haben wir sogenannte funktionelle MRT gemacht, um die Funktion der mittleren Schicht des Cortex, dort wo die Signale eintreffen, zu erfassen.“

Modulierte Reize

Nur die tiefer liegenden Schichten der Hirnrinde zeigten altersbedingten Abbau: Bei älteren Studienteilnehmenden waren sie dünner als bei jüngeren Menschen.

In den unteren Schichten des Cortex findet Modulation statt: Die Signale des Tastsinns werden hier je nach Kontext verstärkt oder abgeschwächt. „Das hat mit Konzentration und Aufmerksamkeit zu tun“, erläutert Kühn. „Trage ich beispielsweise einen Ring am Finger, dann spüre ich diesen irgendwann nicht mehr, auch wenn die taktilen Reize bestehen bleiben. Das passiert erst dann wieder, wenn ich den Ring wieder bewusst wahrnehme.“

Benutztes wird bewahrt

„Die mittlere Schicht des Cortex und auch die oberen Schichten sind äußeren Reizen am unmittelbarsten ausgesetzt“, erklärt Kühn weiter. „Sie sind dauerhaft aktiv, denn man ist ja ständig in Kontakt mit der Umgebung. Die Nervenschalkreise in den unteren Schichten werden weniger beansprucht, gerade im Alter. Deshalb sehe ich unsere Befunde als Indiz dafür, dass das Gehirn bewahrt, was intensiv genutzt wird. Das ist ein Merkmal von Neuroplastizität. Dazu passen auch unsere Beobachtungen von einem Probanden, der 52 Jahre alt war. Sein Leben lang konnte er nur einen Arm nutzen, denn von Geburt an fehlte ihm das andere Glied. Die zugehörige mittlere Schicht seiner Hirnrinde, also jene, die sensorische Reize empfängt, war vergleichsweise dünn.“

Überdies könnten die Unterschiede in der Alterung der Hirnschichten möglicherweise erklären, warum manche Fertigkeiten mit dem Alter nachlassen, andere weniger. „Sensomotorische Fähigkeiten, die immer wieder geübt werden, etwa das Schreiben auf einer Tastatur, können auch im Alter lange bestehen bleiben“, so Kühn. „Kommen jedoch störende Einflüsse hinzu, etwa eine laute Umgebung, dann tun sich ältere Personen mit solchen Tätigkeiten meist besonders schwer. Das könnte daran liegen, dass die Funktionalität der tiefen Hirnschichten nachgelassen hat, die Modulation sensorischer Reize also beeinträchtigt ist.“

Hinweise auf Kompensation

Die Forschenden fanden allerdings Hinweise dafür, dass Mechanismen in den tiefen Hirnschichten sich dem altersbedingten Funktionsverlust zu einem gewissen Grad widersetzen.

Kühn: „Obwohl die tiefen Schichten der Hirnrinde mit zunehmendem Alter dünner wurden, nahm ihr Myelin-Gehalt überraschenderweise zu. Bei Vergleichsstudien an Mäusen haben wir diese Effekte ebenfalls beobachtet. Wir haben dann herausgefunden, dass der Anstieg des Myelins darauf zurückgeht, dass bestimmte Nervenzellen vermehrt vorkommen.“ Die Forscherin fährt fort: „Von diesen ist bekannt, dass sie sich positiv auf die Modulation von Nervenimpulsen auswirken. Sie schärfen sozusagen das Signal. Offenbar wirken Kompensationsmechanismen der zellulären Degeneration teilweise entgegen. In Hinblick auf Prävention wäre es interessant zu erforschen, ob sich diese Mechanismen gezielt fördern und erhalten lassen. Denn unsere Daten von den Mäusen deuten darauf hin, dass diese Kompensation in sehr hohem Alter wegbricht.“

Optimistischer Blick auf das Altern

„Insgesamt passen unsere Befunde zur allgemeinen Sichtweise, dass wir unserem Gehirn durch geeignete Stimulation etwas Gutes tun“, meint Kühn und ergänzt: „Ich finde es eine optimistische Vorstellung, dass wir unseren Alterungsprozess ein Stück weit selbst in der Hand haben. Aber jede und jeder muss natürlich für sich einen Weg finden, dieses Potenzial auch zu nutzen.“