Hören und Gleichgewicht: Hilft die Akustik beim Balancehalten?15. Mai 2023 Bild: RFBSIP/stock.adobe.com An den komplexen Vorgängen rund um die Kontrolle von Gleichgewicht und Körperhaltung ist möglicherweise auch das Hörsystem beteiligt – das legen zumindest einige Studien aus den vergangenen Jahren nahe. Im Wesentlichen sind es drei Sinne, denen eine wichtige Rolle bei der posturalen Kontrolle zugesprochen wird: der Gleichgewichtssinn, der Sehsinn und die Propriozeption. „Die wichtigsten Informationen kommen dabei aus dem Vestibularorgan, dem paarig angelegten Organ des Gleichgewichtssinnes“, sagt Dr. Ingmar Seiwerth, HNO-Facharzt an der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie des Universitätsklinikums Halle (Saale). Jedes dieser beiden Gleichgewichtsorgane besteht aus drei Bogengängen, die auf Drehbewegungen reagieren, und zwei kleinen Aussackungen, die vertikale oder horizontale Bewegungen registrieren. „Diese Strukturen befinden sich in unmittelbarer Nähe zur rechten und linken Hörschnecke und stehen mit diesen in Verbindung“, erklärt Seiwerth. Bereits diese enge anatomische Beziehung lasse vermuten, dass Hör- und Gleichgewichtssystem auch funktionell interagierten. Auch die Beobachtung, dass ein zunehmender Hörverlust im Alter mit einem Ansteigen des Sturzrisikos einhergehe, könne in diese Richtung gedeutet werden. Die Studienlage zu diesem Thema ist bislang jedoch uneinheitlich. „Die Messmethoden, die Untersuchungsbedingungen und auch die Auswahl der Probanden unterscheiden sich zwischen den einzelnen Studien sehr stark“, sagt Seiwerth. Darunter leide die Vergleichbarkeit der Studien. Einige Ergebnisse deuteten jedoch durchaus darauf hin, dass der Hörsinn mit dem Gleichgewichtssystem interagiere und ein stabilisierendes Potenzial besitze. In mehreren Studien hätten besonders Patientinnen und Patienten mit einer Gleichgewichtsstörung von einem auditorischen Input profitiert. Welche Mechanismen dabei wirksam werden, ist noch weitgehend unklar. Versuche mit gesunden Probanden, denen akustische Signale aus einem im Raum platzierten Lautsprecher präsentiert wurden, legen nahe, dass Höreindrücke wie auditorische Landmarken wirken und die Orientierung im Raum erleichtern können – ein Effekt, der bei der Präsentation über Kopfhörer wegfällt. Dafür spricht auch, dass die Stabilisierung in einigen Studien um so höher war, je reichhaltiger das auditorische Umfeld gestaltet war. „Als weiterer Mechanismus werden sogenannte stochastische Resonanzeffekte diskutiert“, sagt Seiwerth. Dabei erhöhe der auditorische Input die Sensibilität für andere sensorische Komponenten, die an der Gleichgewichtsregulation beteiligt seien. Insgesamt scheine das Hören zwar eine untergeordnete Rolle für die posturale Kontrolle zu spielen, betont der HNO-Experte. Der stabilisierende Effekt sei aber gerade dann besonders hoch, wenn eine der anderen drei Achsen beeinträchtigt sei. In diesen Fällen sei es denkbar, dass etwa Hörgeräte über die reine Hörverbesserung hinaus auch die Gleichgewichtsregulation unterstützen könnten. Um diese Fragen wissenschaftlich fundiert beantworten zu können, seien jedoch kontrollierte, prospektive Beobachtungsstudien notwendig. Das Vestibularorgan zählt ebenso wie das übrige Innenohr zur klassischen Domäne der HNO-Heilkunde. „Mit seinen komplexen Verschaltungen steht der Gleichgewichtssinn beispielhaft für das Zusammenspiel mehrerer Organe, das im Bereich der HNO sehr verbreitet ist“, sagt Prof. Orlando Guntinas-Lichius, Präsident der DGHNO-KHC, Kongresspräsident der diesjährigen Jahresversammlung und Direktor der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum Jena. In diesen „Crosstalk“ seien oft auch Organe und Organsysteme einbezogen, die außerhalb des HNO-Fachbereiches liegen. Um diesen Verbindungen zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, hat die DGHNO-KHC ihren diesjährigen Kongress unter das Motto „Multisensorik und Organ-Crosstalk“ gestellt. „Dieses Motto soll auch als Appell zur interdisziplinären Forschung verstanden werden“, betont Guntinas-Lichius. Um die mannigfaltigen Auswirkungen von HNO-Erkrankungen auf andere Organsysteme besser zu verstehen, sei man auf die Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen wie den Neurowissenschaften oder der klinischen Psychologie angewiesen.
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