Hörschaden im Gehirn

Im Tiermodell der Wüstenrennmaus haben Wissenschaftler untersucht, was im Gehirn nach Beschallung mit einem lauten Ton passiert. (Foto: Reinhard Blumenstein/LIN)

Ein Forscherteam aus Göttingen, Magdeburg und Erlangen hat gezeigt, wie akute, hochgradige Lärmbelästigung zu langfristigen Änderungen im Gehirn führt, die wiederum eine mögliche neurologische Ursache von Schwerhörigkeit oder Tinnitus sein könnte.

Starke Lärmbelästigungen, die zu Schäden der Haarsinneszellen in der Hörschnecke führen, sind eine der Hauptursachen für Hörstörungen. „Beinahe 20 Prozent unserer Bevölkerung leidet unter Einschränkungen beim Hören“, sagt einer der Studienleiter, Prof. Holger Schulze vom Universitätsklinikum Erlangen-Nürnberg. Dafür sind nicht nur die geschädigten Haarsinneszellen verantwortlich, sondern auch Änderungen der Verschaltungen von Nervenzellen im Gehirn. Doch welche Rolle diesen zukommt, ist noch nicht genau verstanden.

„Wenn wir die Ursachen lärmbedingter Hörschäden besser verstehen und behandeln können, wäre dies für unser Gesundheitssystem von immenser Bedeutung“, resümiert Dr. Marcus Jeschke von der Universität Göttingen.

Langfristige Veränderungen im Gehirn nach akutem Lärmschaden

Die Wissenschaftler haben im Tiermodell untersucht, was im Gehirn von Wüstenrennmäusen nach Beschallung mit einem lauten Ton über eine Zeitspanne von etwas über einer Stunde passiert. Das Forscherteam hat dazu in der Hörrinde die Aktivität vieler tausend Nervenzellen gemessen. Die Hörrinde ist, obwohl die akustische Information sie erst nach mehreren Stationen der Verarbeitung im Gehirn erreicht, grundlegend an der auditiven Wahrnehmung beteiligt. Zwar sind Nervenzellen nach einem Schalltrauma nicht direkt geschädigt, doch die Befunde der Studie zeigen, dass es durch die lokale Schädigung von Haarsinneszellen zu einer generell reduzierten Verarbeitung von Tönen in der zentralen Hörrinde kommt. „Diese Form des lärmbedingten Hörverlustes kennen viele von uns, wenn sie nach einem Konzert oder Clubbesuch ein dumpfes Hörempfinden oder sogar Klingeln im Ohr feststellen“, fasst Dr. Max Happel vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg zusammen.

Die verringerte Reizinformation, welche nach dem Schaden vom Ohr in die Hörrinde gelangt, scheinen die Nervenzellen in der Hörrinde durch vermehrt unkoordinierte Aktivität zu kompensieren. Misst man die Aktivität Wochen nach der akuten Schädigung, so fand das Forscherteam eine Kompensation der Verarbeitung der Tonfrequenzen, welche durch das Schalltrauma geschädigt wurden. Es kam zu bleibenden Änderungen der Nervenschaltkreise in der Hörrinde. „Wie genau solche Änderungen zur Pathophysiologie des lärminduzierten Hörverlustes oder womöglich zu Phantomgeräuschen, also Tinnitus, führt, ist Gegenstand aktueller Forschung“, erklärt Prof. Frank Ohl vom Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) in Magdeburg.

Originalpublikation:
Jeschke M et al. Acute and Long-Term Circuit-Level Effects in the Auditory Cortex After Sound Trauma. Front Neurosci., 5. Januar 2021