Hohes Ambulantisierungspotenzial von Kliniken in Deutschland

Christiane Wessel (Foto: Yves Sucksdorff) und Reinhard Busse (Foto: privat)

Nach Angaben des Zi könnten mindestens 20 Prozent aller Behandlungsfälle in Krankenhäusern potenziell ambulant vorgenommen werden. Zudem hätten mehr als 2,5 Millionen stationäre Eingriffe 2021 ambulant erbracht werden können.

Die stationäre Versorgung in Deutschland ist durch eine im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Bettenkapazität sowie eine übergroße Anzahl akutstationärer Krankenhausbehandlungen geprägt. Andere europäische Länder verzeichneten 2019 im Mittel vier Krankenhausbetten und 146 stationäre Behandlungsfälle pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner. Hingegen lag Deutschland mit sechs akutstationären Klinikbetten und 252 Behandlungsfällen pro 1000 Einwohner deutlich darüber. Insbesondere aufgrund stark steigender Kosten für Klinikbehandlungen und des zunehmend deutlicher zu Tage tretenden Fachkräftemangels wird immer eindringlicher gefordert, bisher stationär erbrachte Leistungen in die ambulante Versorgung zu verlagern, konstatiert das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) im Rahmen des Digital-Events „Zi insights“.

Zugleich werde die Frage kontrovers diskutiert, wie hoch das Ambulantisierungspotenzial von stationären Behandlungsfällen wirklich ist. 2021 hätten mehr als 2,5 Millionen der stationär erbrachten Behandlungen ambulant vorgenommen werden können. Das sind knapp ein Fünftel aller Behandlungsfälle in Krankenhäusern. Unter den Fachabteilungen haben dem Zi zufolge neben der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, die Strahlenheilkunde und die Augenheilkunde das größte Potenzial bei der Ambulantisierung stationärer Behandlungsleistungen.

Das sind die zentralen Eckpunkte des vom Zi geförderten Forschungsprojekts „Ambulantisierungspotenzial in deutschen Akutkrankenhäusern“. Erarbeitet worden ist die Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Fachgebiets „Management im Gesundheitswesen“ an der Technischen Universität Berlin. Im Rahmen seines Livestreaming-Formats „Zi insights“ hat das Zi die Kernergebnisse am 17. April öffentlich vorgestellt und mit Expertinnen und Experten aus vertragsärztlicher Praxis und Gesetzlichen Krankenkassen diskutiert.

Dr. Christiane Wessel, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, bekräftigte, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte deutlich zeiteffizienter und kostenökonomischer ambulant operieren könnten, als dies im stationären Bereich üblich sei. „In den stationären Preisen sind eben auch versorgungsferne Kosten enthalten, da muss die Klinik auch den Pförtner mitbezahlen. Auf der anderen Seite müssen die Vertragsarztpraxen aber auch Wettbewerbsnachteile gegenüber den Krankenhäusern ausgleichen. Etwa, weil die Vergütungen für die Praxen generell weniger günstig ausgestaltet sind als für vergleichbare Leistungen in Krankenhäusern. Hinzu kommen deutlich höhere Haftpflichtversicherungsprämien und massiv gestiegene Sachkostenpreise, die derzeit bei den zeitaufwendigeren Leistungen kaum noch aus den Pauschalen für die sektorengleiche Vergütung herausgewirtschaftet werden können”, erläuterte Wessel.

Während Klinikkonzerne ihre Preise durch Synergie- und Mengeneffekte drücken und so Nachteile bei der Zeiteffizienz ausgleichen könnten, stellten die in den neuen sektorengleichen Leistungspauschalen enthaltenen Sachkostenanteile bei aufwendigen Leistungen ein höheres Risiko für einzelne Praxen dar. Zudem würden in den Praxen immer Fachärzte tätig, während in den Krankenhäusern nicht immer klar sei, ob der sogenannte Facharzt-Standard eingehalten wird, so Wessel weiter. „Damit die Pauschalen für sektorengleiche Leistungen tatsächlich breit genutzt und damit Ambulantisierungspotenziale gehoben werden, dürfen sie nicht nur für Krankenhäuser attraktiv sein, sondern müssen insbesondere für die Praxen attraktiv ausgestaltet werden“, forderte sie.

In der Studie wurde das Ambulantisierungspotenzial anhand zwei abweichender Methoden untersucht. Dies war zum einen das vom IGES-Institut im Gutachten zu § 115b SGB V vorgeschlagene Kontextfaktorenmodell. Zum anderen eine Berechnung, in dem die Einschlüsse und Kontextfaktoren des Katalogs „Ambulante Operationen und stationsersetzende Eingriffe“ (AOP-Katalog) aus dem Jahr 2023 zugrunde gelegt worden sind. Demnach hätten nach dem IGES-Modell 2021 rund 2,6 oder nach dem AOP-Katalog rund 2,7 Millionen stationär erbrachte Behandlungen ambulant vorgenommen werden können. Dies entspricht knapp 18 bzw. 19 Prozent aller stationären Behandlungsfälle. Allerdings könnte das Ambulantisierungspotenzial noch größer ausfallen, wenn auch nichtoperative Leistungen stärker berücksichtigt würden. Zudem zeige der deutliche Fallzahlrückgang seit der Pandemie, dass auch in Kernbereichen stationärer Behandlungen Raum für mehr ambulante Behandlungen bestehe.

„Um das hohe ambulante Potenzial bisher stationär erbrachter Leistungen zu heben, ist eine weitere Überarbeitung des AOP-Katalogs hinsichtlich der einbezogenen Leistungen sowie der Kontextprüfung unbedingt erforderlich“, verlangte Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin. Der AOP-Katalog 2023 falle hinsichtlich der einbezogenen Leistungen deutlich hinter das im IGES-Gutachten aufgezeigte Potenzial zurück und müsste auch konservative Behandlungen umfassen. Mit einem Potenzial von rechnerisch bis zu 5,5 Millionen Fällen erscheine eine zunehmende Ambulantisierung bisher stationär erbrachter Leistungen angesichts der finanziellen und personellen Herausforderungen in der stationären Krankenhausversorgung, vor allem auch vor dem Hintergrund internationaler Vergleiche, aber dringend geboten.

„Insbesondere bei der onkologischen Versorgung wird deutlich, wie groß das Ambulantisierungspotenzial hierzulande ist. So werden in Deutschland Krebspatientinnen und -patienten doppelt so häufig stationär versorgt wie in anderen vergleichbaren Ländern. Hier müssen Behandlungsketten innovativ gedacht und neu sortiert werden. Insgesamt könnten Hybridinstitutionen, wie sie in den Level-1i-Versorgungseinrichtungen angedacht waren, eine wichtige Rolle auf dem Weg hin zu deutlich mehr Ambulantisierung einstmals stationärer Leistungen spielen. Voraussetzung ist aber eine starke Konzentration der eigentlichen stationären Fälle auf Krankenhäuser, die die im Krankenhausreformgesetz vorgesehenen Leistungsgruppen und die damit verbundenen Personalmindestanforderungen erfüllen“, so Busse abschließend.