Innovationen versus Bürokratie: Die MDR als „schwarzer Engel“ für die Industrie26. April 2024 Innovationen, MDR oder Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie – über diese Schlagworte diskutierten Helmut Weinhart, Konrad Linke, Arno Blau und Mirko Büttner, moderiert von Hagen Schmal (v.l.) auf dem diesjährigen VSOU. Foto: ja/biermann.medizin Was braucht es damit medizintechnische Innovationen auf den Markt kommen? Auf dem VSOU-Kongress 2024 machten Industrievertreter in erster Linie klar, was es nicht braucht: die Medical Device Regulation (MDR) und überbordende Bürokratie. Die Kongresspräsidenten Prof. Hagen Schmal und Dr. Helmut Weinhart lieferten die Perspektive der Unikliniken beziehungsweise des ambulanten Sektors. Universitätskliniken bieten sich als Partner für die Industrie an – hier gebe es das Know-How, um Entwicklungen auf Praxistauglichkeit zu testen und zwar in dem Rahmen, in dem sie später angewendet würden, wie VSOU-Kongresspräsident Prof. Hagen Schmal (Freiburg) in seinem einführenden Impulsvortrag erläuterte. Zu bieten hätten Universitätskliniken zum einen Fachwissen und Erfahrungen mit klinischen Studien, zum anderen eine entsprechende Infrastruktur. Als Beispiele nannte Hagen, Study Nurses, Datenmanagement und Labore, etwa Biomechanik- oder Bewegungslabore. Aber es gibt auch Hürden, wie der Ärztliche Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Universitätsklinik Freiburg betonte: „Das größte Problem sind die Verträge mit der Industrie.“ Diese seien sehr komplex geregelt, da Unikliniken ein stark regulierter Sektor des öffentlichen Dienstes sind. Die Problemfelder reichen vom Vertragsmanagement über den Datenschutz bis zu der Tatsache, dass Ärzte ihre Arbeitskraft zwischen Studie und Klinik „teilen“ müssten. Besonders problematisch ist Schmal zufolge die Zusammenarbeit mit der Industrie in den Bereichen Produktentwicklung- und Testung sowie Customer Feedback. Hier kämen Verträge erst nach Monaten – manchmal erst nach einem Jahr – zustande. Die Produktentwicklung könne da schon weiter sein. Positiv von Seiten der Politik bewertete Schmal Fördermöglichkeiten durch die EU oder die Forschungsagenda Industrie 4.0 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, hiervon erhofft er sich Unterstützung bei der Organisation, so Schmal weiter. Wenig Positives hatte Weinhart aus Sicht der ambulanten Medizin zu berichten. Hauptproblem: Der fehlende Zugang zu Innovationen insbesondere im Bereich von Interventionen und ambulanten Operationen. Dieser Zugang sei an Unikliniken eher gegeben. Weinhart dazu: „Wir dürfen nur machen, was erlaubt ist. Die Unikliniken können machen, was nicht verboten ist.“ Dadurch kämen innovative Entwicklungen deutlich zu spät in der ambulanten Versorgung an – trotzdem würden Produkte währenddessen weiterentwickelt. Weinhart hob die Bedeutung der Kooperation mit der Industrie hervor, denn Produkte kennenlernen könnten Niedergelassene nur in Zusammenarbeit mit der Industrie, beispielsweise im Rahmen von Skills Labs. Innovative Entwicklungen – Europa bald abgehängt? Dabei stelle sich für Hersteller inzwischen grundsätzlich die Frage, ob es noch wirtschaftlich ist Neuentwicklungen in Europa zuzulassen, so Dipl.-Ing. Konrad F. Linke (Schönkirchen) von der Stryker Trauma GmbH. Nicht nur aus Sicht des Marktführers ist die MDR schuld daran, dass Innovationen nicht mehr auf dem Markt kommen oder Nischenprodukte verschwinden. Linke bezeichnete die EU-Regularien als „schwarzen Engel für die Industrie“. Wie Mirko Büttner von der mittelständischen Implantcast GmbH ausführlich erläuterte, ist vor allem der durch die MDR verursachte hohe bürokratische Aufwand problematisch: So sei eine „MDR-Akte“ fünfmal umfangreicher als der Aufwand für die vorher geltende Medical Device Directive (MDD, Medizinprodukte-Richtlinie) und koste entsprechend mehr. Zehn Prozent seiner Mitarbeiter seien inzwischen mit Qualitätsmanagement beschäftigt. „Das ist natürlich ein Problem“, stellte Büttner klar. Gerade in der Primärendoprothetik stehe man bei jeder Einreichung vor der Frage: Ist das noch wirtschaftlich? Auch Marktführer Stryker klagt über zu hohen Aufwand und Kosten. Linke zufolge sind 600 Vollzeitstellen im Unternehmen für die Regulierung geschaffen worden, auch für ein großes Unternehmen wie Stryker seien das „enorme Kosten“. Dabei sind die überbordende Bürokratie und ihre Folgekosten nur ein Problem der MDR. Das nächste ist die Geschwindigkeit mit der Zulassungen erteilt, beziehungsweise Rezertifizierungen bearbeitet werden. „Die Geschwindigkeit ist ein Armutszeugnis“, brachte es Weinhart im Verlauf der lebhaften Diskussion – auch mit dem Publikum – auf den Punkt. Dazu komme so Büttner die inzwischen zu geringe Zahl der benannten Stellen. Diese seien überlastet, Zulassungen dauerten 18 Monate: „Es hat sich ein Riesenberg aufgestaut“, beklagt Büttner. Auch die von der EU eingeführten Übergangsfristen helfen nicht viel: Die Bürokratie nehme zu, da zusätzliche Anträge eingereicht werden müssten, so Büttner weiter. Verbesserungsvorschläge aus der Politik Bürokratie ist für viel Unternehmen den auch das Hauptproblem der MDR: In einer Umfrage des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) zur MDR gaben das 78 Prozent der Unternehmen an. 51 Prozent fordern ein Fast-Track-Verfahren von Innovationen und 38 Prozent eine gegenseitige Anerkennung von ausländischen Zulassungen, beispielsweise durch die US-amerikanische Food and Druck Administration (FDA). Inzwischen befindet sich der vom BVMed erhobene MedTech-Innovationsklima-Index auf einem Tiefpunkt: Auf einer Skala von null (sehr schlecht) bis zehn (sehr gut) bewerten deutsche Unternehmen das Innovationsklima nur noch mit einer 3,5. Inzwischen hat die europäische Politik reagiert. Die Europäische Volkspartei (evp) hat einen Zehn-Punkte-Plan zur Verbesserung der MDR vorgelegt, der Forderungen der Industrie wie beispielsweise weniger Bürokratie, ein Fast-Track-Verfahren für Innovationen oder auch die alles fünf Jahre fällige Rezertifizierung aufgreift: So sollten sichere Produkte von dieser Pflicht ausgenommen sein, da diese Produkte ohnehin ständig von den Benannten Stellen kontrolliert würden. Auch Büttner sprach sich ausdrücklich für diesen risikobasierten Ansatz aus. Zudem sieht der Plan der evp eine vorzeitige Evaluierung der MDR bereits 2025 vor, um Anpassungsbedarf frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu reagieren, wie Büttner berichtete. Umweg USA – Innovationen kommen später auf dem EU-Markt Die Probleme mit der MDR bleiben nicht ohne Folgen für den deutschen und den europäischen Medizinproduktemarkt: Für Neuzulassungen gehen Hersteller zunehmend den Umweg über die USA: Produkte werden für dem US-amerikanischen Markt von FDA zugelassen, notwendige klinische Studien in den USA durchgeführt. Diese Daten werden dann im Nachgang für eine EU-Zulassung eingereicht, sodass Innovationen den EU-Markt erst sehr viel später erreichen – oder vielleicht gar nicht, so die Befürchtung, die sich in der Diskussionsrunde herauskristallisierte. Darauf, dass diese Praxis nicht nur für den Markt, sondern auch für die Wissenschaft Folgen wies aus dem Publikum Prof. Markus Scheibel, Zürich (Schweiz) hin: Würden Studien in den USA von den dortigen Kollegen durchgeführt und auch publiziert, die Wissenschaft in Europa abgehängt. Zuerst die USA und dann die EU – diesen Weg geht auch das Start-up Metamorphosis, wie der Chief Technologie Officer des Unternehmens, Arno Blau berichtete. Das Start-up hat eine Lösung zur assistierten Chirurgie entwickelt, die mit künstlicher Intelligenz (KI) arbeitet: AIAS (AI Assisted Surgery). Die Navigationstechnologie basiert auf einem KI-Algorithmus, der 2-Röntgenbilder auswertet. Das Ganze funktioniere recht robust, die Zulassung sei für nächstes Jahr geplant – zunächst in den USA. Mit dort gewonnen klinischen Daten wolle man später die Zulassung in der EU beantragen – schön finde er das aber nicht, betonte Blau. Sorgen bereitet ihm auch die Regulierung von risikoreicher KI in Europa. Blau stuft das System nicht als risikoreiche KI ein. Zum einen sei es kein Paradigmenwechsel, bestehende Algorithmen würden lediglich durch KI verbessert, zum anderen behalte der Chirurg die Kontrolle. „Wir unterliegen aber trotzdem der Gesetzgebung für KI“, so Blau. Und das bedeute einen erheblichen Aufwand. Trotz allem bekannten sich Vertreter von Stryker und Implantcast zum Standort Europa. So betonte Linke: „Wir werden hier nicht weggehen.“ Auch wenn die so wichtige Zusammenarbeit mit den Anwendern in Europa manchmal aufgrund der Rahmenbedingungen „frustrierend“ sei. (ja)
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