Interview zur DGHO-Jahrestagung: Von Kosten(transparenz), Leitlinien und selbst hergestellten CAR-T-Zellen4. Dezember 2025 Michael Hallek, Onkologieprofessor an der Uniklinik Köln, leitet den Sachverständigenrat. Foto: Michael Wodak Im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie ergab sich die Möglichkeit zu einem Interview mit Prof. Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin und des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) an der Uniklinik Köln. Zusammen mit Prof. Tim H. Brümmendorf hatte er die Kongresspräsidentschaft inne. Zudem ist Hallek Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen sowie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer. Die Fragen stellte Dr. Sandra Frins. Sehr geehrter Herr Prof. Hallek, bei der Pressekonferenz gestern ging es um die Neustrukturierung der Versorgung von Millionen Krebspatienten. Entsprach das mediale Interesse Ihren Vorstellungen? Hallek: Es ist auffällig, dass regionale und überregionale Publikumsmedien bei unseren Veranstaltungen oft fehlen. Meist greift nur die medizinische Fachpresse unsere Themen auf, und die Publikumspresse übernimmt später Ideen daraus. Auch beim Sachverständigenrat kamen zuletzt bei bedeutenden Themen wie Arzneimittelpreisen nur wenige der großen, überregionalen Medien in die Bundespressekonferenz. Vermutlich ist die Materie zu komplex und schwer vermittelbar. Vielleicht präsentieren wir sie auch zu kompliziert. Da müssen wir besser werden. Wir wollen aber wissenschaftlich differenziert argumentieren. Das führt zu geringem Echo in den Publikumsmedien. Wir müssen lernen, medizinische Fakten besser zu vermitteln und die vielen positiven Entwicklungen stärker hervorzuheben. Oft werden nur Probleme wahrgenommen, besonders in sozialen Medien, während gute Nachrichten untergehen. Wie man das ändert, ist unklar. Mit meinem persönlichen Motto „Nicht reden, sondern machen“ schaffen wir es jedenfalls selten in die Medien. Was die Kommunikation über Preise angeht, so bin ich mir immer nicht so ganz sicher, ob das Heilmittelwerbegesetz an dieser Stelle mehr schadet als nutzt. Hier in Deutschland wird nach meinem Gefühl dadurch insgesamt weniger konkret öffentlich über Medikamente, ihren Nutzen und was die Gemeinschaft bereit ist, dafür zu bezahlen, gesprochen, als in anderen Ländern. In US-Studien werden Schaden und Nutzen richtiggehend gegengerechnet. Halten Sie es für sinnvoll, dass nicht offen über Preise kommuniziert wird? Hallek: Darüber haben wir uns im Sachverständigenrat auch während der Arbeit am letzten Gutachten Gedanken gemacht. Wir haben Transparenz der Arzneimittel-Preise gefordert, auch im europäischen Kontext. Aber daraus ist letztlich keine starke Forderung geworden. Ich möchte es kurz begründen: Mehr Transparenz wäre gut. Aber weil die Arzneimittelpreisbildung in vielen anderen Ländern sich auch an Deutschland orientiert, ermöglicht eine gewisse Intransparenz auch, in Deutschland niedrigere Preise zu verhandeln als die offiziell vereinbarten. Tatsächlich wissen wir beispielsweise beim Verschreiben von Arzneimitteln im Krankenhaus nicht immer genau, wie hoch deren Kosten sind. Während der Vorbereitung des Gutachtens habe ich unsere Krankenhaus-Apothekerin gefragt, ob wir eigentlich immer wissen, welche Kosten entstehen. Das ist nicht so. Wir haben Einkaufsgemeinschaften, die Preise verhandeln. Zusätzlich existieren etliche Rabattabschläge. Das schafft eine unübersichtliche Lage. Aus meiner Sicht klingen die Kostenfragen immer sehr abstrakt, wenn nie wirklich klar ist, über welche Zahlen eigentlich geredet wird. Als die CAR-T-Zellen neu erfunden wurden, veranschaulichte eine Folie auf einem Kongress ihren Preis, der noch vor dem von Mondstaub und Diamanten lag. Hallek: Tatsächlich kennen wir deren Preise recht gut, sie liegen etwa bei 200.000 bis 300.000 Euro pro Patient. Aber ein Punkt stimmt uns nachdenklich: Deutschland ist mit seinen offiziell verhandelten Preisen früher vergleichsweise transparent gewesen. Viele andere Länder veröffentlichen die Preise nicht mehr. Die Nichtveröffentlichung erlaubt Unternehmen, in den Ländern Abschläge zu gewähren, ohne dass sie ihre offizielle, globale Preispolitik ändern muss. Wenn beispielsweise der amerikanische Präsident wahrnimmt, dass Europäer für das gleiche Medikament weniger zahlen als amerikanische Bürger, kann er intervenieren, um die Preise in Amerika zu senken. Für Europa gilt das Gleiche: Es gibt Länder, in denen Medikamente, wenn sie zugelassen werden, preiswerter sind als in Deutschland. Wobei es zwischen vielen Ländern Europas – zumindest nach unseren Recherchen zum Gutachten im Sachverständigenrat – keine extremen Preisunterschiede zu geben scheint. Nicht mal zu sozioökonomisch schwächeren Ländern wie z. B. Rumänien? Hallek: Da wissen wir es nicht ganz genau. Bei vergleichbaren Ländern wie z. B. Belgien sind die Unterschiede nicht sehr groß. Überraschenderweise ist Deutschland offenbar auch kein Land mit extrem hohen Preisen. Wir sind daher mit dieser Transparenzfrage vorsichtiger geworden. Denn hundertprozentige Transparenz würde bedeuten, dass etwa ein Land wie Rumänien keine Rabatte mehr verhandeln könnte, ohne dass andere Ländern die gleichen Abschläge fordern. Daher ist die Transparenz manchmal ein zweischneidiges Schwert. Das war mir vorher nicht so bewusst. Es gibt Regierungen, die Preise nicht veröffentlichen wollen, aber Deals mit der Industrie machen. Meine eigene Haltung dazu ist, dass ich maximale Transparenz haben möchte. Ich finde es richtig, dass wir die genauen Preise kennen. Gestern Nachmittag gab es in einer Sitzung auf dem DGHO-Kongress die Forderung nach mehr Kostentransparenz. Dazu kommentierte Prof. Josef Hecken (unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, Anm. d. Red.) allerdings, er wolle vor allem, dass der Arzt darüber nicht nachdenkt, sondern verschreibt, was richtig ist. Da hat er recht. Wir urteilen, was richtig ist für die Patienten und danach muss erst der Preis interessieren, nicht umgekehrt. Wenn wir Behandlungen danach bewerten, was sie den Patienten und die Gesellschaft kosten, gestalten wir die Therapie vorwiegend unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Das wäre am Ende auch nicht gut. Es muss einen Mittelweg geben. Er bedeutet, erst verordnen und dann prüfen, ob es noch eine preiswertere Alternative gibt. Oder erst sagen, diese Behandlung ist für den Patienten richtig – wie kriegen wir das am besten finanziert? Oder wie können wir zwischen 2, 3, oder 4 ähnlich wirksamen Produkten auswählen? Dabei kann sogar preislich günstigste das wirksamste sein. Wie Sie an meiner langen Antwort merken, ist das ein komplexeres Thema, als sich auf den ersten Blick erschließt. Oft wird in Deutschland eine angebliche 2-Klassen-Medizin moniert. Dass bei uns jeder ungeachtet dessen, wie viel er verdient, die teuerste Therapie kriegen kann, ist meines Erachtens nicht im allgemeinen Bewusstsein vorhanden. Wie sehen Sie das? Hallek: Das muss man mal herausstellen: Das ist in Deutschland wirklich so, anders als in vielen anderen Ländern. Das ist den Bürgern meist nicht bekannt. Wir können alle wesentlichen Therapien durchführen. Zwar gibt es gewisse Einschränkungen und die werden wahrscheinlich noch zunehmen. Das ist wahrscheinlich auch nötig. Wenn große Kosten mit einer einzigen Unterschrift auf einer ärztlichen Verordnung ausgelöst werden, sollte das unter gewissen Voraussetzungen passieren. Beispielsweise sollten Zentren, die mit der Erkrankung Erfahrung haben, diese Entscheidung treffen. Oder es sollten mehrere Menschen den Verordnungsvorgang absegnen. Da ist Transparenz unverzichtbar. Apropos Spezialisierung auf bestimmte Erkrankungen: Bei der gestrigen Pressekonferenz ging es unter anderem um Leistungsgruppen. Wie kann es sein, dass eine Leistungsgruppe festgelegt wird, die dann im Prinzip schon veraltet ist, weil sie die modernen Zelltherapien überhaupt nicht mit abdeckt? Hallek: Das ist uns auch nicht klar, aber diese Leistungsgruppen werden per Minimalkonsens erstellt. Bei den Leistungsgruppen, die jetzt in Deutschland diskutiert wurden, handelt es sich letztlich um die Leistungsgruppen, die das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) in Nordrhein-Westfalen (NRW) festgelegt hat. Dort wurden Ratschläge eingeholt, auch bei Verbänden. Während dieses Vorganges haben wir Eingaben gemacht, dass man eine Leistungsgruppe für die medizinische Onkologie ausweisen müsste. Dazu ist es nicht gekommen. Warum, ist mir ein Rätsel. Stattdessen gibt es eine Leistungsgruppe beispielsweise für komplexe Endokrinologie, vermutlich für seltenere Ereignisse, wie ein entgleister Morbus Addison oder ein diabetisches Koma. Aber für die riesige Gruppe der Krebspatienten gibt es keine Leistungsgruppen für komplexe Hämatologie und Onkologie. Somit gibt es für beispielsweise für Krebs-Patienten mit drei bis vier Vorerkrankungen und einer metastasierten Erkrankung, also eine häufige und schwer zu behandelnde Situation, im gesamten System keine Leistungsgruppe. Wie genau wirkt sich das aus? Hallek: Wenn es keine Leistungsgruppe gibt, wird im Krankenhauswesen nach bisherigen DRGs abgerechnet. Und das kann im Prinzip jede Fachabteilung machen, es gibt bisher keine dafür formulierten Einschränkungen und Zuweisungen. Im umgekehrten Fall, also beispielsweise bei der Leistungsgruppe Leukämien und Lymphome, hat es dazu geführt, dass bestimmte Krankenhäuser, die zu wenig Leukämien und Lymphome behandeln, das nicht mehr machen. Da entfällt die Erstattung mit dem Ziel, die Gelegenheitsversorgung zu beenden.Die Behandlung von metastasierten Tumorerkrankungen mit den ganzen verfügbaren molekularen Werkzeugen kann ein kleines Krankenhaus nicht vorhalten, da braucht es eine Vernetzung und hohe Fachkompetenz. Es fehlt also die Leistungsgruppe „Komplexe Onkologie“. Die ist übersehen worden. Manchmal spielen bei solchen Entscheidungen aber auch politische Beweggründe eine Rolle, etwa wenn die Existenz bestimmter Krankenhäuser von der Behandlung von Krebspatienten abhängt. Herr Lucha, Minister in Baden-Württemberg – einem Land mit vielen guten Universitätsklinika – hat sogar die Mindestmengen für die Versorgung von Frühgeborenen in Frage gestellt. Möglicherweise reagiert er damit auf Kliniken, die sonst ihre neonatologischen Abteilungen oder Kinderkliniken schließen müssen. Das finde ich besorgniserregend. Niemand möchte sich z. B. einer Pankreasoperation in einem Krankenhaus unterziehen, das pro Jahr nur wenige solcher Eingriffe pro Jahr durchführt. Oft wird als Argument gegen die Spezialisierung der weite Weg für die Patienten ins Feld geführt. Was denken Sie darüber? Hallek: Umfragen besagen das Gegenteil. Die Menschen verstehen das in aller Regel. In der konkreten Situation müssen die Politik und die Krankenhausträger das der Bevölkerung kommunizieren und alternative Versorgungsangebote erarbeiten. In der letzten Legislaturperiode wurde versäumt, den Sinn der Spezialisierung von Krankenhäusern ausreichend zu kommunizieren und die Ersatzlösungen etwa in der kommunalen Notfallversorgung vorzubereiten. Hier sind auch die Bundesländer in der Verantwortung. Sie sprachen vorhin die molekulare Charakterisierung von Krebs an. Ist diese denn heutzutage schon weit verbreitet? Hallek: Bei Patienten mit einer metastasierten Erkrankung machen wir mittlerweile regelhaft molekulare Analysen des Tumors – meist gezielte Gen-Analysen von bekannten Tumor-Genen. Dabei wird auch ausgewertet, welche Mutation therapeutisch relevant ist, das sind nur wenige. Dann wird für diese Situation eine optimale Therapie zusammengestellt. Beispielsweise ist eine ALK-Mutation häufig therapiebestimmend, dagegen kann man mit Inhibitoren sehr gut behandeln. Man benötigt keine Chemotherapie. Werden denn mittlerweile z. B. alle Lungenkrebs-Patienten getestet? Ich erinnere mich an ein Plakat neben einem Krankenhaus, mit dem eine Pharmafirma die Patienten per Buchstabensuppe auf das Thema stoßen wollte. Hallek: Die Onkologie wandert in diese Richtung. Wir können damit zum Teil Patienten therapieren, die wir früher eigentlich nicht sinnvoll behandeln konnten. Die Chemotherapie war oft nur eine kurzwirksame Eindämmung des Tumors. Und jetzt haben wir neue Möglichkeiten. Die müssen wir systematisch suchen. Ein konkretes Beispiel: Wir haben eine Patientin mit Gallengangkarzinom behandelt, das lokal gestreut hatte. Auf die Chemotherapie hat sie nicht angesprochen. In der Zwischenzeit haben wir nach einer Mutation gesucht, wurden fündig und behandeln jetzt entsprechend. Sie hatte zuvor erhebliche Komplikationen. Jetzt ist der Tumor weg, der Tumormarker ist in den normalen Bereich gefallen. Normalerweise wäre die verbleibende Lebenszeit ein halbes bis dreiviertel Jahr. Das ist bereits übertroffen, und wir suchen jetzt schon nach der nächsten Möglichkeit. Und diese Fahndung nach solchen Veränderungen ist mittlerweile Pflicht, weil wir damit ganz andere Therapiemöglichkeiten anbieten können als noch vor ein paar Jahren. Auch die Immuntherapie ist eine neue, wichtige Option. Noch ist nicht ganz klar, welche Patienten davon wirklich profitieren. Das müssen wir besser erforschen. Einzelne Fälle, etwa beim Pankreaskarzinom mit TP53-Mutation, zeigen erstaunlich gute Verläufe, wenn sie Checkpointinhibitoren behandelt werden. Bei metastasierten Krebserkrankungen haben wir zudem oft systemische Komplikationen. Und wenn die Therapie nicht greift, ist eine sehr gute Supportiv-Therapie wichtig, sowie eine palliative Therapie. Die medizinische Onkologie fühlt sich dafür verantwortlich. Wenn ich an das Hick-Hack um die Abrechnung der molekularen Tests bei Brustkrebs denke: Sind molekulare Tests heute denn überall abrechenbar? Hallek: Ja. Wir haben dafür sogar ein Genom-Projekt (genom.de), das gut finanziert wird. Wir können dort das Genom bei Tumoren von Patienten mit fortgeschrittenen Krebsleiden sequenzieren, um zu sehen, ob wir behandelbare Genveränderungen finden. Bei dem von Ihnen angesprochenen Brustkrebs ging es um Tests wie den Oncotype-Test für Brustkrebs. Das ist eine ganz andere Situation, dieser Test ist in den initialen, adjuvanten Behandlungsalgorithmus mit eingebaut. Genuntersuchungen kommen aber heute vor allem bei fortgeschrittenen, nicht mehr operablen oder nicht lokal behandelbaren Tumoren zum Einsatz. Wenn der Krebs gestreut hat, beginnt man mit einer systemischen Therapie. Findet man eine Mutation, die man gezielt behandeln kann, ist keine Chemotherapie nötig. Die gezielte Behandlung bedeutet in der Regel eine deutliche Lebensverlängerung. Bei der Pressekonferenz war die Neustrukturierung der Patientenversorgung ein großes Thema. Wie würden Sie sich diese im optimalen Fall vorstellen, z.B. bei einem Patienten, der in einer Gemeinde mit 2000 Seelen lebt, 80 km von der nächstgrößeren Stadt entfernt? Hallek: Die Krebsdiagnose sollte möglichst in einem zertifizierten Zentrum erfolgen. Jeder Krebspatient in Deutschland sollte Kontakt zu einem solchen Zentrum haben, entweder direkt oder über eine/n mit einem Zentrum kooperierenden Ärztin oder Arzt. Nach der Entscheidung über die Therapie kann diese oft wohnortnah durchgeführt werden. Ein Problem bleibt oft die Nachsorge. Oft wird die Betreuung nach den ersten Therapie-Schritten geringer. Dies liegt möglicherweise auch an der dafür nicht sehr guten Vergütung. In der Hämatologie wurde das deshalb geändert. In Verträgen zur Ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) deckt die Vergütung nun auch die Nachsorge für Patienten mit hämatologischen Krebserkrankungen ab. Erfahrungen aus dem Freundeskreis zeigen, dass sich mitunter Probleme durch wechselnde Zuständigkeiten ergeben, bspw. bei Komplikationen infolge einer Therapieumstellung. Wie lässt sich so etwas vermeiden? Hallek: Bei der Versorgung komplexer Situationen ist eine breite Expertise erforderlich, es sollte immer ein medizinischer Onkologe dazu gezogen werden. Organkrebs-Spezialisten sollten für diese Therapien nicht alleine gelassen werden. In der Inneren Medizin, die einen breiteren Blick auf den gesamten Menschen und alle Organe hat, werden Kenntnisse und Erfahrungen erworben, die wichtig und nützlich sind für die Therapie von systemischen Nebenwirkungen. Nehmen wir als Beispiel das Prostatakarzinom, immerhin die häufigste Krebserkrankung bei Männern. Wird in Deutschland eigentlich die lokalisierte Erkrankung beim Urologen behandelt und im metastasierten Stadium eher beim Onkologen? Hallek: Meist übernehmen Urologen die Behandlung nach der Erstdiagnose und betreuen die Patienten weiter. Bei komplexen Fällen ist es sinnvoll und gefordert, diese im Tumorboard zu besprechen und die Therapie gemeinsam abzustimmen. Wir behandeln solche Fälle ebenfalls in unserer Klinik. Schwierige Situationen entstehen, wenn ein einzelner Behandler wichtige Nebenwirkungen nicht erkennt; dann kann der Patient unterversorgt sein. Die Therapie sollten daher immer in einem onkologischen Zentrum, das alle wesentlichen Fachdisziplinen vorhalten muss, begleitet oder gesteuert werden, besonders bei metastasierten Erkrankungen, die internistische Expertise erfordern. In der Onkologie ist Zusammenarbeit viel wichtig. Jeder bringt seine Kenntnisse ein. Urologen haben in der Hormontherapie viel Erfahrung. PARP-Inhibitoren können Zytopenien verursachen, die wir gut erkennen und behandeln können. Gegenseitiger Wissensaustausch ist für die Patientenbetreuung essenziell. Die Tumorboards haben vieles verbessert, aber immer gibt es noch immer Luft nach oben. Ein solcher Behandlungspfad wird in der Regel von Leitlinien gesteuert. Eine Gretchen-Frage meinerseits: Warum gibt es zu ein und demselben Karzinom Leitlinien bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und auf Onkopedia? Und wonach sollte sich ein behandelnder Arzt richten? Hallek: Immer nach der aktuellen Leitlinie. Ein Problem der S3-Leitlinien ist ihr langsamer Erstellungsmechanismus, wir brauchen lebende, permanent aktualisierte Leitlinien. Ich weiß, dass die AWMF sich darum kümmert. Die DGHO versucht, die Onkopedia-Leitlinien aktuell zu halten. Diese sind für uns zurzeit am besten brauchbar im Alltag. Würde denn nicht eine Leitlinie, die regelmäßig aktualisiert wird und alle Arztgruppen einschließt, reichen? Gerade angesichts des Wissens, das sich gerade immer schneller überholt. Hallek: Gestern Abend saß ich neben Prof. Elisabeth Macintyre, ehemalige Präsidentin der European Hematology Association. Sie sagte, dass alle großen europäischen Fachgesellschaften Leitlinien entwickeln oder Wissen sammeln. Um Doppelarbeit zu vermeiden, könnten wir gemeinsame europäische Leitlinien vorantreiben. Da die Gesundheitssysteme immer noch sehr unterschiedlich sind, ist eine gewisse Anpassung der Leitlinien auch heute noch nötig. Die Behandlungs-Unterschiede in Europa sind noch zu groß. Sie führen sogar zu sozialer Ungleichheit. Im unserem Cancer Center in Köln, dem CIO, hatten wir früher eigene Standardprozeduren (SOPs), mittlerweile nutzen wir meist Onkopedia und haben das Erstellen eigener SOPs weitgehend verlassen. Eine letzte Frage hätte ich noch zu den derzeit immer breiter eingesetzten, aber leider sehr teuren CAR-T-Zelltherapien. Laut einer Pressemitteilung der Uniklinik Köln können diese CAR-T-Zellen nun auch direkt an der Uniklinik für jene Patienten produziert werden, welche die üblichen CAR-T-Zellen nicht erhalten können. Inwieweit unterscheiden sich die in Köln vor Ort hergestellten CAR-T-Zellen von jenen der Pharmaindustrie? Hallek: Wir beziehen Anti-CD19-CAR-Vektoren samt Herstellungsset von Miltenyi. Die Patienten-T-Zellen werden in unserem Zentrum mit Prodigy-Geräten automatisch verarbeitet. So läuft die dezentrale Produktion ab. Änderungen am Prozess sind nur als Forschung möglich, weil die Behörden nur das Originalverfahren genehmigt haben. Da wir mit genmodifizierten und menschlichen Zellen arbeiten, braucht alles eine Zulassung durch die Regierungsbezirke und das Paul-Ehrlich-Institut. Wie unterscheiden sich diese Zellen von den CAR-T-Zellen der Pharmaindustrie? Hallek: Wir nutzen das CD-19-Konstrukt von Miltenyi, das sich durch seine T-Zell-Signaltransduktion von anderen unterscheidet. Die Herstellung der CAR-T-Zellen erfolgt direkt in unserer Klinik mit den Produkten und Maschinen der Firma Miltenyi. Das Unternehmen hat ein dezentrales System entwickelt, wodurch Versand und Wartezeiten entfallen. Wir gewinnen das Blut, verarbeiten es vor Ort und geben die in dem definierten Herstellungsprozess hergestellten T-Zellen dem Patienten zurück, meist innerhalb von ein bis zwei Wochen und zu geringeren Kosten. Die Qualität entspricht dem Standard des Herstellers und wird behördlich kontrolliert. Ist auch schon an andere Zielmoleküle gedacht worden? Hallek: Wir forschen an weiteren Anwendungen, selbst wenn es dafür noch keine Zulassung gibt. Wo ein zugelassenes Verfahren existiert, wenden wir es an – auch wenn es in der Herstellung etwas länger dauert. Bei Erkrankungen wie Richtertransformation oder Hodgkin-Lymphom ohne zugelassene CART-Produkte nutzen wir unser Verfahren, wenn CD19 oder CD20 auf dem Tumor exprimiert ist. Die Kostenträger stimmen meist zu. Und dann gibt es ein neues Feld: Bei Fällen mit schweren Autoimmunerkrankungen, so auch bei schwerer Myositis, wo andere Therapien nicht helfen, setzen wir eigene CAR-T-Zellen gegen B-Zellen ein – mit teils erstaunlichen Erfolgen. Für solche Patienten gibt es neue Hoffnung durch diese Behandlung. Sehr geehrter Herr Prof. Hallek, haben Sie herzlichen Dank für dieses Interview!
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