Komplexität und multiple Infektionen: Wenn das Coronavirus nicht allein ist

Prinzip der sozialen Verstärkung: Es macht laut Studienautor Hébert-Dufresne einen Unterschied, ob zehn Freunde einem sagen, dass man sich den neuen Star-Wars-Film ansehen soll, oder ob ein Freund dieselbe Empfehlung zehnmal ausspricht. (Grafik: © imageBROKER/Adobe Stock)

Miteinander interagierende Infektionserkrankungen wie die Influenza und Pneumonien folgen denselben komplexen Ausbreitungsmustern wie soziale Trends. Diese neue Erkenntnis könnte zu einer besseren Nachverfolgung und erfolgreicheren Intervention führen, wenn sich mehrere Krankheiten gleichzeitig in einer Population ausbreiten.

„Das Zusammenspiel von Krankheiten ist eher die Norm als die Ausnahme“, sagt Laurent Hébert-Dufresne, Komplexitätswissenschaftler an der Universität Vermont, der die Studie mit leitete. „Trotzdem betrachten wir, wenn wir Modelle aufstellen, fast immer eine Krankheit isoliert.“

Wenn Modelle von Epidemien wie Coronavirus, Ebola oder Grippe erstellt werden, behandeln Wissenschaftler diese normalerweise als isolierte Krankheitserreger. Bei dieser sogenannten „einfachen“ Dynamik wird allgemein angenommen, dass die prognostizierte Größe der Epidemie proportional zur Übertragungsrate ist. Laut Hébert-Dufresne, Professor für Informatik an der Universität Vermont, und seinen Koautoren Samuel Scarpino von der Northeastern University und Jean-Gabriel Young von der Universität Michigan kann jedoch das Auftreten auch nur eines weiteren ansteckenden Krankheitserregers zu einer dramatischen Verschiebung der Dynamik von einfach zu komplex bedeuten. Sobald eine solche Verschiebung eintritt, lösen mikroskopisch kleine Veränderungen der Übertragungsrate makroskopisch große Sprünge in der erwarteten epidemischen Ausdehnung aus – ein Ausbreitungsmuster, das Sozialwissenschaftler bei der Einführung innovativer Technologien, bei der Verbreitung von Umgangssprache und anderer „ansteckender“ sozialer Verhaltensweisen beobachtet haben.

„Star Wars” und Niesen

Die Forscher begannen 2015 am Santa Fe Institute – einem transdisziplinären Forschungszentrum, an dem Hébert-Dufresne Modelle davon erstellte, wie sich soziale Trends durch Verstärkung ausbreiten – biologische und soziale Ansteckungen miteinander zu vergleichen. Das klassische Beispiel für eine soziale Verstärkung ist laut Hébert-Dufresne „das Phänomen, dass es einen Unterschied macht, ob zehn Freunde einem sagen, dass man sich den neuen Star-Wars-Film ansehen soll, oder ob ein Freund einem dasselbe zehnmal sagt.“.

Ähnlich wie mehrere Freunde, die ein soziales Verhalten verstärken, macht die Existenz mehrerer Erkrankungen eine Infektion ansteckender als eine Krankheit allein dies könnte. Biologische Krankheiten können sich gegenseitig durch Symptome verstärken, wie im Fall eines Schnupfenvirus, das hilft, eine zweite Infektion wie eine Lungenentzündung zu verbreiten. Oder eine Krankheit kann das Immunsystem des Wirtes schwächen und eine Population anfälliger für eine zweite, dritte oder weitere Ansteckung machen.

Wenn sich Krankheiten gegenseitig verstärken, verbreiten sie sich rascher innerhalb einer Population und laufen sich tot, wenn ihnen die neuen Wirte ausgehen. Laut dem Modell der Forscher kennzeichnet dasselbe superexponenzielle Muster die Verbreitung sozialer Trends, etwa in Form viraler Videos, die weit verbreitet sind und dann an Bedeutung verlieren, wenn eine kritische Menge von Menschen sie angesehen hat.

Dengue und Impfgegner

Eine zweite wichtige Erkenntnis ist, dass dieselben komplexen Muster, die für miteinander interagierende Krankheiten zu beobachten sind, auch auftreten, wenn eine biologische Ansteckung mit einer sozialen Ansteckung interagiert. Als Beispiel dafür nennen die Autoren ein Virus,  das sich in Verbindung mit einer Anti-Impf-Kampagne ausbreitet. In der Arbeit wird ein Dengue-Ausbruch aus dem Jahr 2005 in Puerto Rico beschrieben, und Hébert-Dufresne führt einen Dengue-Ausbruch 2017 in Puerto Rico als ein zusätzliches Beispiel an, bei dem eine mangelnde  Berücksichtigung des Zusammenspiels der verschiedenen Dengue-Stämme die Wirksamkeit eines Impfstoffes beeinträchtigte. Dies wiederum löste eine Anti-Impf-Bewegung aus – gewissermaßen eine soziale Epidemie – die letztendlich zum Wiederaufleben der Masern führte – einer zweiten biologischen Epidemie. Dies sei ein klassisches Beispiel für die Komplexität des Problems in der realen Welt, wo sich aus vielen miteinander interagierenden Phänomenen unbeabsichtigte Konsequenzen ergeben.

Es sei zwar faszinierend, ein universelles Ausbreitungsmuster über komplexe soziale und biologische Systeme hinweg zu beobachten, stellt Hébert-Dufresne fest, doch daraus ergebe sich auch eine große Herausforderung. „Wenn wir nur die Daten betrachten, können wir dieses komplexe Muster beobachten und wissen nicht, ob eine tödliche Epidemie durch ein Virus, ein soziales Phänomen oder eine Kombination beider verstärkt wurde.“

„Wir hoffen, dass dies den Weg für interessantere Modelle bereitet, die die Dynamik multipler Ansteckungen erfassen“, ergänzt der Informatiker. „Unsere Arbeit zeigt, dass es für diejenigen, die Krankheitsmodelle erstellen, Zeit ist, Ansteckungen nicht isoliert zu betrachten.“ Die neue Studie könnte auch Aufschluss über die Ausbreitung des Coronavirus geben. „Wenn Sie Vorhersagen treffen, beispielsweise für den aktuellen Ausbruch des Coronavirus in einer Grippesaison, ist es wichtig zu wissen, bei welchen Fällen multiple Infektionen vorliegen und welche Patienten mit einer Influenza im Krankenhaus liegen, aber Angst haben, dass es das Coronavirus ist“, sagt Hébert-Dufresne . „Die Interaktionen können biologischer oder sozialer Natur sein, aber sie sind alle wichtig.“